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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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wusste er recht gut, was mit Pickern gemeint war.
     
    3
     
    Zwei Buden von dem reimenden Teppichverkäufer entfernt versuchte ein verkommen aussehender Mann mit einer Klappe über einem Auge und stark nach Alkohol riechendem Atem einem Farmer einen großen Hahn zu verkaufen. Er erzählte dem Farmer, wenn er diesen Hahn kaufte und zu seinen Hennen steckte, hätten seine sämtlichen Eier in den nächsten zwölf Monden zwei Dotter.
    Jack hatte jedoch weder Augen für den Hahn noch Ohren für die Reden des Mannes. Er trat zu einem Haufen Kinder, die sich um die Hauptattraktion des Einäugigen geschart hatten. Es war ein Papagei in einem großen Käfig aus Weidengeflecht. Er war fast so groß wie die jüngsten unter den Kindern, und sein Gefieder war so glatt und dunkelgrün wie eine Heineken-Bierflasche. Seine Augen funkelten goldgelb – seine vier Augen. Wie das Pferd, das Jack in den Stallungen des Pavillons gesehen hatte, hatte der Papagei zwei Köpfe. Er klammerte sich mit seinen großen gelben Füßen an seiner Stange fest und blickte gelassen in zwei Richtungen zugleich, wobei sich seine beiden Federschöpfe fast berührten.
    Der Papagei redete mit sich selbst, sehr zur Belustigung der Kinder – aber selbst in seiner Verblüffung fiel Jack auf, dass sie dem Papagei zwar ihre ganze Aufmerksamkeit widmeten, aber offenbar weder fassungslos oder auch nur erstaunt waren. Sie waren nicht wie Kinder, die ihren ersten Film sehen, wie festgebannt auf ihren Plätzen sitzen und nur Augen und Ohren sind; sie hatten mehr Ähnlichkeit mit Kindern, die jeden Samstag die neueste Ausgabe ihres Lieblingscomics bekommen. Es war zwar ein Wunder, aber kein völlig neuartiges. Und für wen verlieren Wunder ihren Reiz schneller als für kleine Kinder?
    »Raaak! Wie hoch ist oben?« fragte Ostkopf.
    »So tief wie unten?« erwiderte Westkopf, und die Kinder kicherten.
    »Graak! Was ist der Unterschied zwischen einem Hirsch und einem Mann?« fragte jetzt Ostkopf.
    »Dass der Hirsch ständig ein Geweih trägt, während es einem Mann schon reicht, wenn er einmal Hörner aufgesetzt bekommt«, erwiderte Westkopf. Jack lächelte, und mehrere der älteren Kinder lachten, aber die jüngeren schauten nur verständnislos drein.
    »Und was ist in Mrs. Spratts Schrank?« wollte Ostkopf jetzt wissen.
    »Etwas, das kein Mann sehen darf«, gab Westkopf zur Antwort, und obwohl Jack damit nichts anfangen konnte, brachen die Kinder in Gelächter aus.
    Der Papagei verschob in aller Ruhe seine Klauen auf der Stange und ließ seine Exkremente in das darunterliegende Stroh fallen.
    »Und was hat Alan Destry in der Nacht zu Tode erschreckt?«
    »Er sah seine Frau – graaak! – aus dem Bad kommen!«
    Der Farmer entfernte sich jetzt, und der einäugige Händler war seinen Hahn nicht losgeworden. Er drehte sich wütend zu den Kindern um. »Verschwindet hier! Verschwindet, bevor ich jedem von euch einen Tritt versetze!«
    Die Kinder verzogen sich und Jack mit ihnen, aber nicht ohne über die Schulter noch einen letzten staunenden Blick auf diesen wunderbaren Papagei zu werfen.
     
    4
     
    An einer anderen Bude gab er zwei Glieder von seinen Stäbchen für einen Apfel und eine Schale Milch aus – die süßeste, sahnigste Milch, die er je getrunken hatte. Wenn sie zu Hause solche Milch hätten, dachte Jack, dann wären Nestle und Hershey in einer Woche bankrott.
    Er trank gerade den Rest seiner Milch, als er bemerkte, dass sich die Familie Henry langsam auf ihn zubewegte. Er gab die Schale der Frau in der Bude zurück, die haushälterisch die letzten Tropfen wieder in den großen Holzbottich neben sich goss. Dann ging er weiter, wischte sich den Milchbart von der Oberlippe und hoffte voller Unbehagen, dass niemand, der vor ihm aus der Schale getrunken hatte, Lepra oder Herpes oder etwas dergleichen gehabt hatte. Aber irgendwie glaubte er nicht, dass es hier solche Krankheiten gab.
    Er wanderte durch die Hauptstraße des Marktstädtchens, an den Clowns vorbei, an zwei dicken Frauen vorbei, die Töpfe und Pfannen feilboten, an dem wunderbaren zweiköpfigen Papagei vorbei (dessen einäugiger Besitzer jetzt in aller Öffentlichkeit aus einer Tonflasche trank, von einem Ende seiner Bude zum anderen torkelte, den verstört dreinblickenden Hahn am Hals hielt und den Passanten unflätige Bemerkungen zuschrie – Jack sah, dass der dürre rechte Arm des Mannes mit gelblichweißem Guano verkrustet war, und verzog das Gesicht), an einem offenen Platz vorbei, auf dem sich

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