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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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gewesen sein mochte – es hatte das Loch in seiner Mitte gründlich und nachhaltig gefüllt. Jack hatte das Gefühl, als könnte er es tausend Jahre lang auf seinem Frühstücksbrot mit in die Schule nehmen.
    Jetzt, nachdem es ihm gelungen war, seinen Magen zum Schweigen zu bringen – zumindest eine Zeitlang –, war er imstande, sich interessierter umzusehen – und obwohl er es nicht wusste, hatte er nun endlich begonnen, mit der Menge zu verschmelzen. Jetzt war er nur einer unter vielen Bauernjungen, die vom Land in das Marktstädtchen gekommen waren, langsam zwischen den Buden herumwanderten und versuchten, in alle Richtungen gleichzeitig zu schauen. Hausierer nahmen ihn zur Kenntnis, aber nur als ein mögliches Opfer unter vielen. Sie riefen und winkten ihn heran, und wenn er vorbeiging, riefen und winkten sie denjenigen heran, der hinter ihm kam – Mann, Frau oder Kind. Jack starrte unverhohlen auf die Waren, die rings um ihn herum feilgeboten wurden, Waren, die wunderbar und merkwürdig zugleich waren, und inmitten all der anderen Leute, die gleichfalls starrten, hörte er auf, ein Fremder zu sein – vielleicht, weil er sich nicht mehr um Blasiertheit bemühte an einem Ort, an dem niemand den Blasierten spielte. Sie lachten, sie argumentierten, sie feilschten – aber niemand schien gelangweilt.
    Das Marktstädtchen erinnerte ihn an den Pavillon der Königin, doch ohne die Atmosphäre greifbarer Spannung und allzu hektischer Fröhlichkeit – hier gab es die gleiche, fast unglaublich intensive Mischung von Gerüchen (in der bratendes Fleisch und der Kot von Tieren dominierten), die gleiche festlich gekleidete Menge (obwohl selbst die am kostbarsten gekleideten Leute, die Jack entdeckte, einigen der Dandies, die er im Pavillon gesehen hatten, nicht das Wasser reichen konnten), das gleiche beunruhigende und dennoch irgendwie herrliche Nebeneinander des völlig Normalen und überaus Merkwürdigen.
    Er blieb vor einer Bude stehen, in der ein Mann Teppiche mit dem eingewebten Porträt der Königin verkaufte. Plötzlich fiel Jack Hank Scofflers Mutter ein, und er lächelte. Hank war einer der Jungen, mit denen Jack und Richard Sloat in L.A. befreundet gewesen waren. Mrs. Scoffler hatte ein Faible für die auffälligsten Dekorationen, die Jack je begegnet waren. Bei Gott, sie wäre begeistert gewesen von diesen Teppichen mit dem eingewebten Bild von Laura DeLoessian mit einem königlichen Kranz auf dem Kopf. Sie waren noch viel besser als das auf Samt gemalte Bild mit den Alaska-Elchen oder das Keramik-Diorama vom Letzten Abendmahl Jesu hinter der Bar im Wohnzimmer der Scofflers …
    Dann schien sich, noch während er hinschaute, das in die Teppiche eingewebte Gesicht zu verändern. Das Gesicht der Königin war verschwunden, und es war das Gesicht seiner Mutter, das er sah, vielfach wiederholt, mit zu dunklen Augen und viel zu weißer Haut.
    Wieder überfiel Jack das Heimweh. Es stürzte in sein Denken wie eine Welle, und sein Herz rief nach ihr –  Mom ! He, Mom! Großer Gott, was tue ich hier? Mom!! –, und er fragte sich mit der Intensität eines Liebenden, was sie jetzt wohl tat, in dieser Minute. Saß sie am Fenster, rauchte, blickte hinaus aufs Meer, ein aufgeschlagenes Buch neben sich? Saß sie vorm Fernseher? War sie im Kino? Schlief sie? Lag sie im Sterben?
    Ist sie tot? setzte eine boshafte Stimme hinzu, bevor er sie hindern konnte. Ist sie tot, Jack? Schon tot?
    Hör auf!
    Er spürte, wie Tränen in seinen Augen brannten.
    »Warum so traurig, mein Junge?«
    Erschrocken blickte er auf und stellte fest, dass der Teppichhändler ihn ansah. Er war ebenso massig wie der Fleischhändler, und seine Arme waren gleichfalls tätowiert, aber sein Lächeln war offen und sonnig. In ihm steckte keine Bosheit. Das war der große Unterschied.
    »Es ist nichts«, sagte Jack.
    »Wenn nichts dich so traurig macht, dann solltest du vielleicht an etwas denken, mein Sohn.«
    »Habe ich so schlimm ausgesehen?« fragte Jack, jetzt ein wenig lächelnd. Er hatte auch alle Befangenheit im Umgang mit der Sprache verloren – zumindest in diesem Augenblick –, und vielleicht hörte der Teppichhändler deshalb nichts darin, was irgendwie merkwürdig klang.
    »Junge, du hast ausgesehen, als wäre dir auf dieser Seite des Mondes nur ein einziger Freund geblieben und du hättest gerade gesehen, wie der Wilde Weiße Wolf aus dem Norden erschien und ihn mit einem silbernen Löffel verspeiste.«
    Jack lächelte wieder. Der

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