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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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perplex, und zuerst ist es das Aufwachen, das mir wie ein Traum vorkommt. Und ich bin hier kein Fremder, wenn der Traum tief wird – ist es das, was ich meine? Nein, aber es kommt der Sache nahe. Ich bin sicher, mein Dad hat oft tief geträumt. Und ich bin ebenso sicher, dass Onkel Morgan es fast nie tut.
    Er beschloss, einen Schluck aus Speedys Flasche zu nehmen und zurückzuflippen, sobald er etwas bemerkte, das gefährlich sein konnte – oder auch nur etwas, das ihn ängstigte. Sonst würde er den ganzen Tag weiterwandern, bevor er in den Staat New York zurückkehrte. Er wäre sogar versucht gewesen, die Nacht in der Region zu verbringen, wenn er außer dem einen Apfel etwas zu essen gehabt hätte. Aber das hatte er nicht, und an der breiten, menschenleeren Weststraße gab es nirgends einen Schnellimbiss oder ein Rasthaus.
    Die alten Bäume, die das Marktstädtchen und die Straßenkreuzung umgeben hatten, waren offenem Grasland beiderseits der Straße gewichen, nachdem Jack die letzten kleinen Ansiedlungen hinter sich gelassen hatte. Ihn überkam das Gefühl, als wandere er über einen endlosen Damm inmitten eines grenzenlosen Ozeans. An diesem Tag ging er ganz allein die Weststraße entlang unter einem Himmel, der hell und sonnig war, aber kühl (Ende September, natürlich ist es schon kühl, dachte er, aber das Wort, das ihm in den Kopf kam, war nicht September, sondern ein Wort der Region, das sich eher mit Neunmond übersetzen ließ). Keine Fußgänger begegneten ihm, keine beladenen oder leeren Wagen. Der Wind blies ziemlich stetig, fuhr durch den Ozean aus Gras mit einem leisen herbstlichen Seufzen und ließ die Halme in großen Wellen wogen.
    Wenn man ihn gefragt hätte: »Wie fühlst du dich, Jack?«, dann hätte der Junge erwidert: »Recht gut, danke. Fröhlich.« Und er wäre sehr erstaunt gewesen, wenn man ihm gesagt hätte, dass er mehrere Male geweint hatte, als er dastand und zusah, wie die großen Wellen einander zum Horizont hin nachjagten, ein Anblick, den nur wenige Kinder seiner Zeit je vor Augen gehabt hatten – riesige, menschenleere Landstriche unter einem blauen Himmel von atemberaubender Weite und Tiefe. Es war ein Himmel, an dessen Kuppel sich keine Kondensstreifen von Düsenflugzeugen abzeichneten und dessen Ränder keine schmutzigen Smogbänder trübten.
    Auf Jack stürzte eine Fülle von Wahrnehmungen ein; er sah und hörte und roch Dinge, die völlig neu für ihn waren, während andere, vertraute Wahrnehmungen zum ersten Mal in seinem Leben fehlten. In mancher Hinsicht war er ein bemerkenswert weltkluger Junge – da er in Los Angeles aufgewachsen war und einen Agenten zum Vater und eine Filmschauspielerin zur Mutter hatte, konnte er kaum naiv bleiben –, aber er war trotzdem noch ein Kind, weltklug oder nicht, und das war ein unbestreitbarer Vorteil, zumindest in einer solchen Situation. Bei einem Erwachsenen hätte ein einsamer Tagesmarsch durch das Grasland gewiss eine Überlastung der Sinne bewirkt und vielleicht sogar das Gefühl ausgelöst, wahnsinnig zu sein und unter Halluzinationen zu leiden. Ein Erwachsener hätte nach Speedys Flasche gegriffen – wahrscheinlich mit Fingern, die zu sehr zitterten, um sie fest zu ergreifen –, und zwar schon eine Stunde westlich des Marktstädtchens oder noch früher.
    In Jacks Fall drang dieser Anprall fast vollständig durch sein Bewusstsein hindurch und ins Unterbewußte ein, so dass er, wenn er überwältigt war und zu weinen begann, sich seiner Tränen im Grunde nicht bewusst wurde und nur dachte: Weiß der Himmel, ich fühle mich so wohl … eigentlich müsste es mir unheimlich vorkommen, so ohne jede Menschenseele, aber das tut es nicht.
    Und deshalb empfand Jack sein Entzücken nur als gutes, fröhliches Gefühl, während er allein auf der Weststraße entlangwanderte und die Schatten hinter ihm allmählich länger wurden. Er dachte nicht daran, dass ein Teil seines Wohlbefindens aus der Tatsache rühren mochte, dass er keine zwölf Stunden zuvor noch im Oatley Tap gefangen gewesen war (die Blutblasen vom letzten Fass, das seine Finger gequetscht hatte, waren noch ganz frisch); dass er keine zwölf Stunden zuvor mit knapper Not einem mordlustigen Biest entkommen war, in dem er jetzt eine Art Wer-Bock sah; dass er sich zum ersten Mal in seinem Leben auf einer breiten, offenen Straße befand, die völlig menschenleer war; nirgendwo war eine Coca-Cola-Reklame in Sicht oder eine Budweiser-Tafel mit den weltberühmten

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