Der Talisman
der Mühelosigkeit; sie schienen ungeheure Mengen von Energie aufwenden zu müssen, um sich in der Luft zu halten, und Jack war sich plötzlich ganz sicher, dass es wehtat, so wie manche Übungen im Turnunterricht wehtaten – Liegestütze und Klimmzüge zum Beispiel. Ohne Schweiß kein Preis! pflegte ihr Sportlehrer zu brüllen, wenn jemand den Mut aufbrachte, sich zu beklagen.
Und jetzt fiel ihm noch etwas ein – seine Mutter hatte ihn einmal in eine Tanzschule am unteren Ende des Wilshire Boulevard mitgenommen, wo ihre Freundin Myrna, eine richtige Ballett-Tänzerin, trainierte. Myrna gehörte einer Truppe an, und Jack hatte sie und die anderen Mitglieder der Truppe auf der Bühne gesehen – seine Mutter nahm ihn oft mit, und meistens war es ziemlich langweilig, ungefähr wie in der Kirche oder bei Sunrise Semester im Fernsehen. Aber er hatte Myrna noch nie trainieren sehen – hatte sie noch nie aus der Nähe erlebt. Er war beeindruckt und ein wenig bestürzt gewesen von dem Kontrast zwischen einer Vorstellung auf der Bühne, wo alle zu gleiten oder mühelos auf der äußersten Fußspitze zu trippeln schienen, und dem, was er hier kaum einen Meter entfernt vor sich sah, wo grelles Tageslicht durch die deckenhohen Fenster einfiel und keine Musik ertönte – nur der Choreograph klatschte rhythmisch in die Hände und übte lautstark Kritik. Kein Lob; nur Kritik. Schweiß rann über ihre Gesichter. Ihre Trikots waren nass von Schweiß. Der Raum, so groß und luftig er war, stank nach Schweiß. Geschmeidige Muskeln zitterten und bebten nervös am Rande der Erschöpfung. Angespannte Sehnen standen vor wie isolierte Kabel. Auf Stirnen und Hälsen waren heftig pulsierende Adern zu sehen. Vom Händeklatschen und den wütenden, tyrannischen Zurufen des Choreographen abgesehen, waren die einzigen Geräusche das Tap-tap von Tänzern, die sich auf Spitze über den Boden bewegten, und das raue, gequälte Keuchen nach Luft. Jack war plötzlich klar geworden, dass diese Tänzer nicht nur ihren Lebensunterhalt verdienten; sie brachten sich um. Vor allem erinnerte er sich an ihre Gesichter – all diese erschöpfte Konzentration, all diese Schmerzen –, aber hinter den Schmerzen oder zumindest irgendwo in ihrem Randbereich hatte er Glück gesehen. Glück war es gewesen, was in diesen Gesichtern gelegen hatte, und es hatte Jack geängstigt, weil es ihm unerklärlich schien. Was waren das für Menschen, die in Hochstimmung gerieten, indem sie sich derart stetigen, pochenden, qualvollen Schmerzen aussetzten?
Und Schmerzen dieser Art glaubte er auch hier zu sehen. Waren es tatsächlich geflügelte Männer wie die Vogelmenschen in den Flash Gordon-Filmen, oder waren ihre Flügel mehr von der Art des Ikarus und Dädalus, etwas, das man sich anschnallte? Jack stellte fest, dass es keine Rolle spielte – jedenfalls für ihn nicht.
Glück.
Sie leben unter dem Schleier des Geheimnisses, diese Leute leben unter dem Schleier des Geheimnisses.
Und Glück ist es, was sie in der Luft hält.
Das war es, was eine Rolle spielte. Es war Glück, das sie in der Luft hielt, ob die Flügel nun aus ihrem Rücken wuchsen oder von Riemen und Schnallen dort gehalten wurden. Denn das, was er sah, sogar aus dieser Entfernung, war die gleiche Art von Anstrengung, die er an jenem Tag in der Tanzschule am Wilshire Boulevard gesehen hatte. All diese ungeheuerliche Aufbietung von Energie, nur um eine grandiose, kurzfristige Umkehrung der Naturgesetze zu bewirken. Dass eine derartige Umkehrung so viel verlangte und nur so kurze Zeit dauerte, war entsetzlich; dass Menschen es trotzdem versuchten, war entsetzlich und wunderbar zugleich.
Und alles ist nur ein Spiel, dachte er, und plötzlich war er seiner Sache sicher. Ein Spiel, vielleicht nicht einmal das – vielleicht war es nur das Training für ein Spiel, wie auch all der Schweiß und die zitternde Erschöpfung damals am Wilshire Boulevard nur Training gewesen waren. Training für eine Show, die wahrscheinlich nur wenige Leute interessierte und bald wieder abgesetzt werden würde.
Glück, dachte er wieder. Er stand jetzt, hatte das Gesicht erhoben, um die fliegenden Männer in der Ferne zu beobachten, und der Wind wehte ihm das Haar in die Stirn.
Glück – ein herrliches kleines Wort.
Als Jack sich auf der Weststraße wieder in Bewegung setzte, fühlte er sich wohler als je, seit dies alles begonnen hatte – und Gott allein wusste, wie lange das her war; sein Schritt war leicht, und auf seinem
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