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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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– nieste Jack dreimal schnell hintereinander. Er schluckte und verspürte ein heißes Prickeln in der Kehle. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Krank werden, noch nicht einmal in Indiana, zehn Grad, Regen angesagt, niemand, der ihn mitnahm, und nun …
    Der Fluss seiner Gedanken brach plötzlich ab. Er starrte auf den Parkplatz, mit weit offenem Mund. Einen Augenblick lang war ihm, als müsste er sich in die Hose machen, weil sich unterhalb seines Brustbeins alles zu verkrampfen schien.
    Auf einem der rund zwanzig schrägen Parkstreifen stand Onkel Morgans BMW. Der dunkelgrüne Lack war jetzt trüb von Straßenschmutz, aber es war kein Irrtum möglich. Kalifornische Nummernschilder mit den Buchstaben MLS für Morgan Luther Sloat. Der Wagen sah aus, als wäre er schnell und hart gefahren worden.
    Aber wenn er nach New Hampshire geflogen ist, wie kann sein Wagen dann hier sein? wimmerte Jack in Gedanken. Es ist Zufall, fuck, nur ein …
    Dann sah er den Mann, der mit dem Rücken zu ihm am Münzfernsprecher stand, und wusste, dass es kein Zufall war. Er trug einen dicken, pelzgefütterten Anorak, ein Kleidungsstück, das eher für fünfzehn Grad minus als für zehn Grad plus gedacht war. Aber obwohl er ihm den Rücken zuwandte, waren diese breiten Schultern, dieser massige, schlaffe und ungeschlachte Rumpf unverkennbar.
    Der Mann am Telefon begann sich umzudrehen; den Hörer hatte er zwischen Ohr und Schulter geklemmt.
    Jack drückte sich an die Ziegelsteinmauer der Herrentoilette.
    Hat er mich gesehen?
    Nein, beantwortete er seine Frage selbst. Nein, ich glaube nicht. Aber …
    Aber Hauptmann Farren hatte gesagt, dass Morgan – der andere Morgan – ihn riechen würde, wie eine Katze eine Ratte riecht, und das hatte er auch getan. Von seinem Versteck in dem lebensgefährlichen Wald hatte Jack gesehen, wie sich das grässliche weiße Gesicht im Fenster der Kutsche veränderte.
    Dieser Morgan würde ihn gleichfalls riechen. Wenn man ihm Zeit ließ.
    Schritte um die Ecke herum, näher kommend.
    Mit taubem und angstverzerrtem Gesicht riss Jack seinen Rucksack herunter und ließ ihn fallen; er wusste, dass es zu spät, dass er zu langsam war, dass Morgan um die Ecke biegen und ihn lächelnd beim Genick packen würde. Hi, Jacky ! Hab ich dich endlich! Das Spiel ist aus, du kleiner Scheißer!
    Ein hochgewachsener Mann in einer karierten Jacke kam um die Ecke des Toilettengebäudes, warf Jack einen gleichgültigen Blick zu und trat an den Trinkbrunnen.
    Zurückkehren. Ich kehre in die Region zurück. Da war kein Schuldgefühl, zumindest im Augenblick nicht; nur die entsetzliche Angst, in der Falle zu sitzen, in die sich seltsamerweise Erleichterung und Freude mischten. Jack öffnete die Schnallen seines Rucksacks. Hier war Speedys Flasche, in der kaum noch zwei Zentimeter der purpurnen Flüssigkeit
    (kein Junge ist auf dieses Gift angewiesen aber ich bin’s Speedy ich bin’s!)
    auf dem Boden schwappten. Wenn schon. Er kehrte zurück. Sein Herz tat einen Freudensprung bei dem Gedanken. Auf seinem Gesicht erschien ein breites Samstagabend-Grinsen, das den grauen Tag ebenso verleugnete wie die Angst in seinem Herzen. Ich kehre zurück, ja, das tue ich.
    Wieder näherten sich Schritte, und jetzt war es Onkel Morgan – dieser schwere und dennoch irgendwie mahlende Schritt war nicht zu verkennen. Aber die Angst war verschwunden. Onkel Morgan hatte etwas gerochen, aber wenn er um die Ecke bog, würde er nichts sehen als leere Erdnußtüten und verbeulte Bierdosen.
    Jack sog den Atem ein – sog den fettigen Gestank von Diesel- und Benzinabgasen ein und die kalte Herbstluft. Hob die Flasche an die Lippen und kippte sie. Und kniff sogar die geschlossenen Augen noch fester zusammen, als …

 
Sechzehntes Kapitel
     
    Wolf
     
    1
     
    … das starke Sonnenlicht seine geschlossenen Lider traf.
    Durch den widerlich süßen Dunst des Zaubersaftes hindurch roch er noch etwas anderes – den warmen Geruch von Tieren. Er konnte auch hören, wie sie sich rings um ihn herum bewegten.
    Erschrocken öffnete Jack die Augen, aber fürs erste konnte er nichts sehen – der Helligkeitsunterschied war so groß und unvermittelt, als hätte jemand in einem dunklen Zimmer plötzlich ein paar Zweihundert-Watt-Lampen eingeschaltet.
    Eine warme, fellbedeckte Flanke streifte ihn, nicht auf bedrohliche Art (hoffentlich, dachte Jack), sondern eher auf die Art von jemandem, der es eilig hat. Jack, der gerade aufstehen wollte, stürzte wieder zu

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