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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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Boden.
    »He! He! Fort von ihm. Gleich hier und jetzt!« Ein lautes, herzhaftes Klatschen, gefolgt von einem empörten Tierlaut, einem Mittelding zwischen Muhen und Blöken. »Gottes Nägel! Unvernünftige Biester! Schert euch weg von ihm, sonst beiße ich euch die gottverhämmerten Augen aus!«
    Jetzt hatten sich seine Augen der Helligkeit dieses fast makellosen Herbsttages der Region hinreichend angepasst, um einen jungen Riesen zu erkennen, der inmitten einer Herde durcheinander wimmelnder Tiere stand und ihnen auf die Flanken und die leicht buckligen Rücken schlug – offensichtlich mit großem Genus, aber mit geringem Kraftaufwand. Jack setzte sich auf, griff automatisch nach Speedys Flasche mit dem einen kostbaren Schluck, der noch darin war, und verstaute sie. Dabei wendete er die Augen nicht von dem jungen Mann ab, der ihm den Rücken zudrehte.
    Groß war er – mindestens einsfünfundneunzig, schätzte Jack – und so breitschultrig, dass die Breite nicht ganz im richtigen Verhältnis zu seiner Größe stand. Langes, fettiges schwarzes Haar hing zottig bis auf seine Schulterblätter herab. Seine Muskeln schwollen und schwanden, während er sich zwischen den Tieren bewegte, die aussahen wie Zwergrinder. Er trieb sie von Jack fort und zur Weststraße hin.
    Selbst von hinten bot er einen beeindruckenden Anblick, aber was Jack verblüffte, war seine Kleidung. Jedermann, den er in der Region gesehen hatte (sich selbst nicht ausgenommen), hatte einen Überrock, ein Wams oder grobe Breeches getragen.
    Dieser Bursche trug einen Oshkosh-Latzoverall.
    Dann drehte er sich um, und Jack spürte, wie Angst und Schrecken in seiner Kehle aufwallten. Er sprang auf.
    Es war das Elroy-Ding.
    Der Hirte war das Elroy-Ding.
     
    2
     
    Aber es war nicht so.
    Jack wäre vielleicht nicht stehen geblieben, um das festzustellen, und alles, was danach geschah – das Kino, der Schuppen und die Hölle des Sunlight-Heims –, wäre nicht geschehen (oder hätte zumindest einen völlig anderen Verlauf genommen), aber er war dermaßen entsetzt, dass er wie erstarrt stehen blieb, nachdem er aufgesprungen war. Er war ebenso wenig imstande fortzulaufen wie ein Reh, das ein Jäger mit seiner Blendlaterne eingefangen hat.
    Als die Gestalt im Latzoverall näher kam, dachte er: Elroy war nicht so groß und auch nicht so breit. Und seine Augen waren gelb … Die Augen dieses Geschöpfes leuchteten in einem hellen, kaum vorstellbaren Orange. Wenn man in sie hineinblickte, war es, als blickte man in die Augen einer Kürbislaterne. Und während Elroys Grinsen Wahnsinn und Mord verkündet hatten, lag auf dem Gesicht dieses Burschen ein breites, fröhliches und harmloses Lächeln.
    Seine Füße waren nackt, riesig und spateiförmig, die Zehen in Gruppen von zwei und drei angeordnet, fast verdeckt durch Ringel drahtigen Haars. Keine Klauen, wie die von Elroy gewesen waren, stellte Jack halb von Sinnen vor Überraschung, Angst und aufkeimender Belustigung fest, sondern eher Pfoten oder Tatzen.
    Als er den Abstand zwischen sich und Jack verringerte, flammten seine Augen in einem noch helleren Orange auf, sie nahmen für einen Augenblick die Farbe der Leuchtwesten an, die beim Straßenbau beschäftigte Männer vor dem Überfahrenwerden schützen sollen. Dann verblich die Farbe zu einem lehmigen Haselnußbraun. Dabei stellte Jack fest, dass sein Lächeln verwirrt und freundlich zugleich war, und begriff zweierlei: zum einen, dass keine Bosheit in diesem Burschen steckte, nicht eine Unze Bosheit, und zum anderen, dass er schwer von Begriff war. Nicht gerade schwachsinnig, aber schwer von Begriff.
    »Wolf!« rief der große, haarige Tierjunge lächelnd. Seine Zunge war lang und lief spitz zu, und Jack dachte, während ein Schauder ihn überlief, dass er tatsächlich einem Wolf glich. Nicht einem Ziegenbock, sondern einem Wolf. Und er hoffte, mit seiner Vermutung, dass keine Bosheit in ihm steckte, recht zu haben. Aber wenn ich mich in dieser Hinsicht geirrt habe, dann brauche ich zumindest nicht zu befürchten, dass mir weitere Irrtümer unterlaufen … niemals wieder. »Wolf! Wolf!« Er streckte eine Hand aus, und Jack sah, dass seine Hände behaart waren wie seine Füße, obwohl dieses Haar feiner und üppiger war – im Grunde sogar recht hübsch. Besonders dicht wuchs es auf den Handflächen, wo es der weichen Blesse auf der Stirn eines Pferdes glich.
    Mein Gott, ich glaube, er will mir die Hand geben’.
    Jack erinnerte sich an Onkel Tommy, der ihm

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