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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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gesagt hatte, er dürfe nie eine angebotene Hand zurückweisen, nicht einmal die seines schlimmsten Feindes (»Bekämpfe ihn hinterher bis aufs Messer, wenn es sein muss, aber drücke ihm zuerst die Hand«, hatte Onkel Tommy gesagt), und streckte ängstlich seine eigene Hand aus. Würde sie zerquetscht werden – oder vielleicht gefressen?
    »Wolf! Wolf! Gibt die Hand, gleich hier und jetzt!« rief das Jungen-Ding in seinem Oshkosh-Overall begeistert. »Gleich hier und jetzt! Guter alter Wolf! Gott hämmre es! Gleich hier und jetzt! Wolf!«
    Trotz seiner Begeisterung war Wolfs Griff fast sanft, gemildert durch die weiche, pelzige Behaarung seiner Handfläche. Ein Latzoverall und ein prächtiger Händedruck von einem Burschen, der aussieht wie ein zu groß geratener Husky und ungefähr so riecht wie ein Heuboden nach starkem Regen, dachte Jack. Und was kommt nun? Eine Einladung, am Sonntag mit ihm in seine Kirche zu kommen?
    »Guter alter Wolf, wahrhaftig! Guter alter Wolf gleich hier und jetzt!« Wolf schlug die Arme um seine gewaltige Brust und lachte vor Freude über sich selbst. Dann packte er wieder Jacks Hand.
    Diesmal wurde sie heftig geschüttelt. Irgendetwas musste wohl geschehen an diesem Punkt, überlegte Jack. Sonst würde dieser nette, aber etwas einfältige junge Mann seine Hand womöglich weiterschütteln, bis die Sonne unterging.
    »Guter alter Wolf«, sagte er. Diese Redewendung schien sein neuer Bekannter ganz besonders zu lieben.
    Wolf lachte wie ein Kind und gab Jacks Hand frei. Jack verspürte Erleichterung. Die Hand war weder zerquetscht noch aufgefressen worden, aber sie fühlte sich ein wenig seekrank an.
    »Bist ein Fremder, ja?« fragte Wolf. Er steckte seine behaarten Hände in die Schlitze seines Latzoveralls und spielte mit etwas, das sich in den Taschen befand.
    »Ja«, sagte Jack; er dachte daran, was das Wort hier bedeutete, dass es einen ganz speziellen Sinn hatte. »Ja, ich glaube, das bin ich. Ein Fremder.«
    »Gottverhämmert richtig! Ich rieche es! Gleich hier und jetzt, oh ja! Habe es gleich gemerkt! Riecht nicht schlecht, aber irgendwie komisch.
    Wolf! Das bin ich. Wolf! Wolf! Wolf!« Er warf den Kopf zurück und lachte. Das Geräusch endete mit etwas, das einem Heulen beunruhigend nahe kam.
    »Jack«, sagte Jack. »Jack Saw …«
    Seine Hand wurde wieder ergriffen und hingebungsvoll geschüttelt.
    »Sawyer« ergänzte er, als er wieder freigegeben worden war. Er lächelte und hatte dabei das Gefühl, als hätte ihm jemand mit einer großen Narrenpritsche auf den Kopf geschlagen. Fünf Minuten zuvor hatte er sich noch gegen die kalte Ziegelmauer eines Toilettengebäudes an der Interstate 70 gedrückt. Und jetzt stand er hier und unterhielt sich mit einem jungen Burschen, der mehr Tier als Mensch zu sein schien.
    Und seine Erkältung war wie weggeblasen.
     
    3
     
    »Wolf trifft Jack! Jack trifft Wolf! Hier und jetzt! Okay! Gut! Oh, Jason! Tiere auf der Straße! Sind sie nicht blöd! Wolf! Wolf!«
    Mit lautem Rufen sprang Wolf den Abhang zur Straße hinunter, wo ungefähr die Hälfte seiner Herde stand und sich fassungslos umschaute, als fragten sich die Tiere, wohin das Gras verschwunden war. Sie sahen aus wie eine Kreuzung zwischen Rindern und Schafen, stellte Jack fest, und fragte sich, wie man eine solche Kreuzung nennen könnte. Selbst die größten von ihnen waren kaum mehr als einen guten Meter hoch. Ihr Fell war wollig, aber von einem lehmigen Braun, das dem von Wolfs Augen ähnelte – wenn sie nicht gerade funkelten wie Kürbislaternen. Auf ihren Köpfen saßen kurze, gekrümmte Hörner, die zu nichts nutze zu sein schienen. Wolf trieb sie von der Straße herunter. Die Tiere waren gefügig und zeigten keinerlei Angst. Wenn eine Kuh oder ein Schaf in meiner Welt diesen Burschen erschnuppern würde, dachte Jack, brächten sie sich um bei dem Versuch, vor ihm auszureißen.
    Aber Jack mochte Wolf – er mochte ihn auf Anhieb, ebenso wie er Elroy auf Anhieb verabscheut und gefürchtet hatte. Der Vergleich bot sich an, weil beide unbestreitbar etwas gemeinsam hatten. Nur dass Elroy etwas von einem Bock an sich gehabt hatte, während Wolf – nun, eben ein Wolf war.
    Jack wanderte langsam dorthin, wo Wolf seine Herde grasen ließ. Er erinnerte sich, wie er auf Zehenspitzen durch den stinkenden Gang des Oatley Tap auf die Feuertür zugeschlichen war, gespürt hatte, dass Elroy in der Nähe war, ihn gerochen hatte, wie eine Kuh in seiner Welt zweifellos Wolf riechen würde. Er

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