Der Talisman
trockenere Gras des Feldes, wo das Land wieder anzusteigen begann.
»Wolf!« schrie Jack. »Wolf, um Gottes willen!«
»Oah«, stöhnte Wolf und erbrach warmes, schlammiges Wasser über Jacks Schulter. »Oahhhh …«
Jetzt sah Jack Morgan am anderen Ufer stehen, eine große, puritanische Gestalt in seinem schwarzen Umhang. Die Kapuze gab seinem bleichen, vampirhaften Gesicht eine Art düster – romantischen Rahmen. Jack hatte Zeit für den Gedanken, dass die Region auch hier Wunder gewirkt hatte. Hier war Morgan keine übergewichtige Kröte mit erhöhtem Blutdruck, die nur Zahlen im Kopf, Piraterie im Herzen und Mord im Sinn hatte; hier war sein Gesicht straffer geworden, es hatte eine Art kalter, maskuliner Schönheit gewonnen. Er hob die silberne Stange wie einen Spielzeug-Zauberstab, und blaues Feuer zerriss die Luft.
»Jetzt du und dein dämlicher Freund!« schrie Morgan. Die dünnen Lippen öffneten sich zu einem triumphierenden Grinsen und enthüllten eingesunkene gelbe Zähne, die den verschwommenen Eindruck von Schönheit ein für allemal zunichtemachten.
Wolf schrie auf und zuckte in Jacks schmerzenden Armen. Er starrte Morgan an, und Hass und Angst ließen seine Augen orangefarben funkeln.
»Du Teufel!« heulte Wolf. »Du Teufel! Meine Schwester! Meine Wurfschwester! Wolf! Wolf! Du Teufel!«
Jack zog die Flasche aus seinem Wams. Es war ohnehin nur noch ein einziger Schluck darin. Er konnte Wolf mit einem Arm nicht halten; er entglitt ihm, und Wolf schien unfähig, sich selbst auf den Beinen zu halten. Aber das machte nichts. Er konnte ihn ohnehin nicht in die andere Welt mitnehmen. Oder konnte er es doch?
»Du Teufel!« heulte Wolf, und sein nasses Gesicht glitt an Jacks Arm herunter. Der Rücken seines Latzoveralls trieb aufgebauscht im Wasser.
Der Geruch brennenden Grases und brennender Tiere.
Widerhallender Donner.
Diesmal fuhr der Feuerstrom in der Luft so nahe an Jack vorbei, dass er ihm die Haare in der Nase versengte.
»JAWOHL, IHR BEIDE, IHR ALLE BEIDE!« kreischte Morgan. »ICH WERDE DIR ZEIGEN, WAS PASSIERT, WENN MAN SICH MIR IN DEN WEG STELLT, DU VERDAMMTER KLEINER BASTARD! ICH LASSE EUCH BEIDE VERSCHMOREN! ALLE BEIDE!«
»Wolf, halt dich fest!« schrie Jack. Er versuchte nicht mehr, Wolf hochzuhalten; stattdessen ergriff er Wolfs Hand und umfasste sie, so fest er konnte. »Halt dich an mir fest, hast du gehört?«
»Wolf!«
Er hob die Flasche an die Lippen, und der grauenhaft kalte Geschmack verrotteter Trauben füllte zum letzten Mal seinen Mund. Die Flasche war leer. Während er schluckte, hörte er, wie sie zersprang, als einer von Morgans Blitzen sie getroffen hatte. Aber das Geräusch brechenden Glases war schwach – das elektrische Summen … sogar Morgans Wutgekreisch.
Ihm war, als stürzte er rücklings in ein Loch. Ein Grab vielleicht. Dann drückte Wolfs Hand die von Jack so heftig, dass Jack stöhnte. Das Schwindelgefühl, das Gefühl, einen Purzelbaum geschlagen zu haben, begann zu verblassen – und dann verblasste auch der Sonnenschein und wurde zum trüben Purpurgrau einer Oktoberdämmerung im Herzen Amerikas. Kalter Regen schlug Jack ins Gesicht, und irgendwie hatte er das Gefühl, in viel kälterem Wasser zu stehen als noch Sekunden zuvor. Nicht weit entfernt hörte er das vertraute Dröhnen der großen Laster auf dem Highway. Nur schien das Geräusch jetzt von irgendwo über seinem Kopf herzukommen.
Unmöglich, dachte er, aber war es das wirklich? Die Grenzen dieses Wortes schienen sich zu dehnen wie ein Gummiband. Einen benommenen Augenblick lang stand vor seinen Augen das Bild von fliegenden Lastwagen der Region, gelenkt von fliegenden Männern der Region mit großen, auf den Rücken geschnallten Segeltuchflügeln.
Zurück, dachte er. Wieder zurück, dieselbe Zeit, derselbe Highway.
Er nieste.
Und auch dieselbe Erkältung.
Aber zwei Dinge waren nicht dieselben geblieben.
Hier war kein Rastplatz. Sie standen knietief im eisigen Wasser eines Flusses unter einer Highway-Brücke.
Wolf war bei ihm. Das war das zweite, das sich geändert hatte.
Und Wolf schrie.
Achtzehntes Kapitel
Wolf geht ins Kino
1
Ein weiterer Lastwagen rollte über die Brücke, sein großer Dieselmotor dröhnte. Die Brücke bebte. Wolf heulte und klammerte sich so verzweifelt an Jack, dass beide beinahe ins Wasser gefallen wären.
»Lass das!« schrie Jack. »Lass mich los, Wolf! Es ist nur ein Laster! Lass mich los!«
Er schlug nach Wolf, obwohl er es nicht
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