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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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wollte – Wolfs Entsetzen war mitleiderregend. Aber ob mitleiderregend oder nicht, auf Jack drückte der größte Teil eines Fußes von Wolf und vielleicht hundertfünfzig Pfund Gewicht, und wenn Wolf die Oberhand bekam, würden sie beide in dieses eiskalte Wasser stürzen und sich eine Lungenentzündung holen.
    »Wolf! Mag das nicht! Wolf! Mag das nicht! Wolf! Wolf!«
    Aber sein Griff lockerte sich. Einen Augenblick später fielen seine Arme seitlich herunter. Als ein weiterer Lastwagen über ihre Köpfe hinwegdröhnte, fuhr Wolf zusammen, konnte sich aber so weit beherrschen, dass er Jack nicht wieder packte. Aber in seinen Augen lag ein stummes, zitterndes Flehen, das zu sagen schien: Bring mich von hier fort, bitte, bring mich von hier fort, ich möchte lieber tot sein als in dieser Welt.
    Es gibt nichts, das ich lieber täte, Wolf, aber Morgan ist drüben. Und selbst wenn er es nicht wäre – ich habe keinen Zaubersaft mehr.
    Er blickte auf seine linke Hand herunter und sah, dass er den abgesplitterten Hals von Speedys Flasche umkrampfte wie ein Mann, der sich in einer Bar in eine Schlägerei stürzen will. Wolf hatte Glück gehabt, dass er sich nicht geschnitten hatte, als er sich in seiner Panik an Jack klammerte.
    Jack warf den Flaschenhals ins Wasser.
    Jetzt kamen zwei Lastwagen – der Lärm verdoppelte sich. Wolf heulte vor Entsetzen und schlug die Hände über die Ohren. Jack bemerkte, dass beim Flippen der größte Teil der Haare von Wolfs Händen verschwunden war – der größte Teil, aber nicht alle. Und er sah auch, dass die ersten beiden Finger an Wolfs Händen genau gleich lang waren.
    »Komm, Wolf«, sagte Jack, als der Lärm der Lastwagen ein wenig schwächer geworden war. »Sehen wir zu, dass wir hier wegkommen. Wir sehen aus wie zwei Jungen, die darauf warten, getauft zu werden.«
    Er ergriff Wolfs Hand und fuhr dann zusammen, als er die Panik spürte, die in Wolfs Griff steckte. Wolf sah seinen Ausdruck und ließ locker – ein wenig.
    »Lass mich nicht allein, Jack«, sagte Wolf. »Bitte, lass mich nicht allein.«
    »Nein, Wolf, ich lass dich nicht allein«, sagte Jack. Er dachte: Wie schaffst du das eigentlich, du Trottel? Hier stehst du nun, unter einer Highway-Brücke irgendwo in Ohio, mit deinem Lieblings-Werwolf neben dir. Wie schaffst du das? Trainierst du? Und außerdem – wie steht es mit dem Mond, Jacko? Weißt du das?
    Er wusste es nicht, und da Wolken den Himmel verdeckten und ein kalter Regen fiel, gab es auch keine Möglichkeit, es herauszufinden.
    Wie standen seine Chancen? Dreißig zu eins? Oder achtundzwanzig zu zwei?
    Wie es auch sein mochte – sie standen nicht gut genug. Jedenfalls nicht, nachdem sich die Dinge so entwickelt hatten.
    »Nein, ich lass dich nicht allein«, wiederholte er und führte Wolf dann dem entgegengesetzten Flussufer entgegen. Im seichten Wasser trieben die verrotteten Überreste der Puppe eines Kindes mit dem Bauch nach oben; blaue Glasaugen starrten in die zunehmende Dunkelheit. Die Muskeln in Jacks Arm schmerzten von der Anstrengung, Wolf durch diese Welt zu zerren, und sein Schultergelenk pochte wie ein fauler Zahn.
    Als sie das Wasser verließen und das verunkrautete und mit Abfällen übersäte Flussufer erklommen, begann Jack wieder zu niesen.
     
    2
     
    Diesmal hatte Jack in der Region nur ein paar hundert Meter in Richtung Westen zurückgelegt – die Strecke, die Wolf seine Herde getrieben hatte, damit die Tiere in dem Fluss trinken konnten, in dem Wolf selbst beinahe ertrunken wäre. Hier befand er sich seiner Schätzung nach fünfzehn Kilometer weiter westwärts. Sie mühten sich das Ufer hinauf – zum Schluss musste Wolf Jack buchstäblich hinaufziehen –, und im letzten Tageslicht entdeckte Wolf eine Ausfahrt, die ungefähr fünfzig Meter vor ihnen vom Highway abzweigte. Auf einem reflektierenden Schild stand: ARCANUM LETZTE AUSFAHRT IN OHIO STAATSGRENZE 25 KILOMETER
    »Wir müssen trampen«, sagte Jack.
    »Trampen?« sagte Wolf verwirrt.
    »Lass dich anschauen.«
    Er glaubte, es würde gehen, zumindest im Dunkeln. Wolf trug nach wie vor seinen Latzoverall, auf dem jetzt ein richtiges OSHKOSH-Etikett saß. Aus seinem handgesponnenen Hemd war ein blaukariertes Konfektionsstück geworden, das aussah, als stammte es aus ausrangierten Heeresbeständen. Seine vorher bloßen Füße steckten in einem riesigen Paar billiger Mokassins und weißen Socken.
    Und was das Merkwürdigste war: mitten in Wolfs großem Gesicht saß eine Stahlbrille

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