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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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die meiste Zeit drinnen blieben. Nachdem die Sonne untergegangen war, verschwand Wolf im Wald. Er bewegte sich langsam, und sein Gesicht war dem Boden nahe. Jack sah ihm nach und fand, dass er aussah wie ein Kurzsichtiger auf der Suche nach seiner verlorenen Brille. Dann machte er sich Sorgen (er stellte sich vor, dass Wolf in eine Falle mit Stahlbacken geraten war, dass er darin festsaß und mit aller Kraft versuchte, nicht zu heulen, während er sein eigenes Bein durchbiss …), bis Wolf endlich zurückkehrte, diesmal fast aufrecht gehend und beide Hände voll Pflanzen, deren Wurzeln aus seinen Fäusten heraushingen.
    »Was hast du da, Wolf?« fragte Jack.
    »Medizin«, sagte Wolf verdrossen. »Aber sie taugt nicht viel, Jack. Wolf! Nichts taugt viel in deiner Welt.«
    »Medizin? Was meinst du damit?«
    Aber mehr wollte Wolf nicht sagen. Er holte zwei Streichhölzer aus der Latztasche seines Overalls und machte ein rauchloses Feuer an; dann fragte er Jack, ob er eine Dose auftreiben könnte. Jack fand eine Bierdose im Straßengraben. Wolf roch daran und verzog die Nase.
    »Riecht auch schlecht. Ich brauche Wasser, Jack. Sauberes Wasser. Ich hole es, wenn du zu müde bist.«
    »Wolf, ich möchte wissen, was du vorhast.«
    »Ich hole es«, sagte Wolf. »Da drüben am anderen Ende des Feldes ist eine Farm. Wolf! Dort gibt es Wasser. Du ruhst dich aus.«
    Vor Jacks innerem Auge erschien das Bild einer Farmersfrau, die beim Abwaschen des Abendbrotgeschirrs einen Blick aus dem Küchenfenster warf und Wolf entdeckte, wie er über den Hof schlich, eine Bierdose in einer behaarten Pfote und ein Bündel Pflanzen und Wurzeln in der anderen.
    »Nein, ich gehe«, sagte er.
    Die Farm war kaum fünfhundert Meter von ihrem Nachtquartier entfernt; wenn sie über das Feld blickten, konnten sie das warme gelbe Licht deutlich sehen. Jack ging hinüber, füllte ohne Zwischenfälle die Bierdose aus einem Wasserhahn an einem Schuppen und machte sich auf den Rückweg. Als er die Hälfte des Feldes hinter sich gebracht hatte, fiel ihm auf, dass er seinen Schatten sehen konnte, und er blickte zum Himmel empor.
    Der Mond, jetzt fast voll, stand über dem östlichen Horizont.
    Beunruhigt kehrte Jack zu Wolf zurück und gab ihm die Dose mit dem Wasser. Wolf roch daran, verzog wieder die Nase, sagte aber nichts. Er setzte die Dose aufs Feuer und ließ zerkrümelte Teile der Pflanzen, die er gesammelt hatte, durch die Öffnung hineinfallen. Ungefähr fünf Minuten später stieg mit dem Dampf ein entsetzlicher Geruch auf – ein übler Gestank, wenn man das Kind beim rechten Namen nennen wollte. Jack stöhnte. Er zweifelte nicht im Mindesten daran, dass Wolf von ihm verlangen würde, dass er das Zeug trank, und ebenso wenig zweifelte er daran, dass es ihn umbringen würde. Vermutlich langsam und auf grauenhafte Weise.
    Er schloss die Augen und begann laut und theatralisch zu schnarchen. Wenn Wolf glaubte, er schliefe, würde er ihn nicht wecken. Schließlich weckte man kranke Leute nicht auf, oder? Und Jack war krank; bei Anbruch der Dämmerung war sein Fieber zurückgekehrt; es tobte in ihm, jagte ihm Kälteschauer über den Rücken, der Schweiß brach ihm aus allen Poren.
    Er blickte durch seine Wimpern hindurch und sah, dass Wolf die Dose zum Abkühlen beiseitegestellt hatte. Wolf hatte sich zurückgelehnt und blickte zum Himmel empor, die behaarten Hände um die Knie gelegt, das Gesicht träumerisch und irgendwie schön.
    Er sieht den Mond an, dachte Jack, und Angst keimte in ihm auf.
    Wir kommen nicht einmal in die Nähe der Herde, wenn wir uns verwandeln. Guter Jason, nein! Wir würden über sie herfallen.
    Wolf, sag mir eines: bin ich jetzt die Herde?
    Jack zitterte.
    Fünf Minuten später – Jack war fast tatsächlich eingeschlafen – beugte sich Wolf über die Dose, roch daran, nickte, hob sie auf und kam dorthin, wo Jack an einem umgestürzten, vom Feuer geschwärzten Balken lehnte, ein T-Shirt zum Abpolstern der Kante im Nacken. Jack schloss die Augen ganz fest und begann wieder zu schnarchen.
    »Komm, Jack«, sagte Wolf vergnügt. »Ich weiß, dass du wach bist. Wolf kannst du nichts vormachen.«
    Jack öffnete die Augen und sah ihn verdrossen und widerwillig an. »Woher hast du das gewusst?«
    »Leute haben einen Schlafgeruch und einen Wachgeruch«, sagte Wolf. »Das müssten eigentlich sogar Fremde wissen, oder nicht?«
    »Nein, ich glaube, das wissen sie nicht«, sagte Jack.
    »Jedenfalls musst du das hier trinken. Es ist

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