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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Als er Jack zu erklären versuchte, was er tun sollte – so gut er es vermochte –, flog hoch über ihnen ein Düsenflugzeug hinweg. Wolf sprang auf, tat einen Satz, heulte es an und drohte mit der Faust zum Himmel. Seine behaarten Füße waren wieder nackt. Sie waren angeschwollen und hatten die billigen Mokassins gesprengt.
    Er versuchte Jack zu erklären, was er tun sollte, aber er hatte kaum mehr zur Verfügung als alte Geschichten und Gerüchte. Er wusste, was die Veränderung in seiner eigenen Welt bedeutete, aber er ahnte, dass sie im Land der Fremden viel heftiger ausfallen mochte – machtvoller und gefährlicher. Und das spürte er jetzt. Er spürte, wie diese Macht ihn durchdrang, und er war sicher, dass sie ihn fortreißen würde, wenn in der Nacht der Mond aufging.
    Und er versicherte wieder und wieder, dass er Jack nichts zuleide tun wollte, dass er sich lieber selbst umbrächte, als Jack etwas zuleide zu tun.
     
    4
     
    Die nächste Kleinstadt war Daleville. Jack traf dort ein, kurz nachdem die Uhr am Gerichtsgebäude Mittag geschlagen hatte, und betrat das Eisenwarengeschäft. Eine seiner Hände steckte in der Hosentasche und berührte seine zusammengeschmolzene Rolle Banknoten.
    »Kann ich etwas für dich tun, Junge?«
    »Ja, Sir«, sagte Jack. »Ich brauche ein Vorhängeschloss.«
    »Dann komm hier herüber und sieh dich um. Wir haben Yale-Schlösser, Mosslers, Lok-Tites und einen Haufen andere. Was für eins soll es denn sein?«
    »Ein großes«, sagte Jack und betrachtete den Verkäufer mit seinen verschatteten, irgendwie beunruhigenden Augen. Sein Gesicht war hager, aber durch seine eigentümliche Schönheit dennoch überzeugend.
    »Ein großes«, wiederholte der Verkäufer. »Und wozu brauchst du es, wenn ich fragen darf?«
    »Für meinen Hund«, sagte Jack unbeirrt. Eine Geschichte. Immer wollten sie eine Geschichte hören. Diese hatte er sich auf dem Weg von dem Schuppen ausgedacht, in dem sie die letzten beiden Nächte verbracht hatten. »Ich brauche es für meinen Hund. Ich muss ihn einsperren. Er beißt.«
     
    5
     
    Das Schloss, das er aussuchte, kostete zehn Dollar; danach blieben ihm noch ungefähr sechs Dollar. Es widerstrebte ihm, so viel Geld auszugeben, und er war nahe daran, sich für ein billigeres Fabrikat zu entscheiden – und dann fiel ihm ein, wie Wolf am Abend zuvor ausgesehen hatte, wie er den Mond angeheult hatte, während orangerotes Feuer aus seinen Augen sprühte.
    Er bezahlte die zehn Dollar.
    Als er zum Schuppen zurückeilte, reckte er jedes Mal, wenn ein Wagen vorbeifuhr, den Daumen hoch; aber natürlich hielt keiner von ihnen an. Vielleicht machte er einen zu nervösen, hektischen Eindruck. Auf jeden Fall fühlte er sich nervös und hektisch. In der Zeitung, in die der Verkäufer ihn einen Blick hatte werfen lassen, war die Zeit des Sonnenuntergangs mit genau achtzehn Uhr angegeben gewesen. Die Zeit des Mondaufgangs stand nicht darin, aber Jack schätzte, dass er spätestens um neunzehn Uhr aufgehen würde. Jetzt war es bereits dreizehn Uhr, und er hatte noch keine Ahnung, wo er Wolf die Nacht über unterbringen sollte.
    Du musst mich einsperren, Jack, hatte Wolf gesagt. Musst mich sicher einschließen. Denn wenn ich herauskomme, dann falle ich über alles her, was ich erjagen kann und zu fassen bekomme. Sogar über dich, Jack. Sogar über dich. Deshalb musst du mich einschließen und nicht herauslassen, was ich auch tue oder sage. Drei Tage, Jack, bis der Mond anfängt, wieder dünner zu werden. Drei Tage – oder sogar vier, wenn du nicht ganz sicher bist.
    Ja, aber wo? Es durften keine Leute in der Nähe wohnen, damit niemand Wolf hörte, falls – wenn, korrigierte er sich widerstrebend – er zu heulen begann. Und es musste ein Ort sein, der wesentlich stabiler war als der Schuppen, in dem sie geschlafen hatten. Wenn Jack sein schönes neues Zehn-Dollar-Schloss an die Tür des Schuppens hängte, war Wolf imstande, durch die Rückwand auszubrechen.
    Wo?
    Er wusste es nicht. Was er wusste, war nur, dass er kaum noch sechs Stunden Zeit hatte, einen geeigneten Ort zu finden – vielleicht weniger.
    Jack hastete noch schneller voran.
     
    6
     
    Unterwegs waren sie an mehreren leeren Farmhäusern vorübergekommen, hatten in einem von ihnen sogar eine Nacht verbracht, und auf dem Rückweg von Daleville hielt Jack Ausschau nach Anzeichen dafür, dass Häuser unbewohnt waren, nach gardinenlosen Fenstern und Schildern, auf denen

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