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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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trank, würde er es tun. Schließlich hatte es bewirkt, dass es ihm jetzt wesentlich besser ging.
    Er ging seitlich um den Schuppen herum, ein hochgewachsener, schlanker Junge in Unterhosen, ungeschnürten Turnschuhen und offenem Hemd. Das Urinieren schien sehr lange zu dauern, und dabei blickte er zum Himmel empor. Es war eine dieser irreführenden Nächte, die es im Mittleren Westen manchmal im Oktober und Anfang November gibt, kurze Zeit bevor der Winter grausam und unerbittlich hereinbricht. Es war fast tropisch warm, und die milde Brise glich einer Liebkosung.
    Der Mond hing am Himmel, weiß, rund und herrlich. Er warf ein klares und dennoch gespenstisch täuschendes Licht auf alle Dinge, schien sie gleichzeitig zu erhellen und zu verdunkeln. Jack starrte ihn an; er wusste, dass er fast hypnotisiert war, aber es kümmerte ihn nicht.
    Wir kommen nicht einmal in die Nähe der Herde, wenn wir uns verwandeln. Guter Jason, nein!
    Bin ich jetzt die Herde, Wolf?
    Der Mond hatte ein Gesicht. Jack stellte ohne jede Überraschung fest, dass es Wolfs Gesicht war – aber es war nicht breit und offen und ein wenig verwundert, ein Gesicht voller Güte und Einfalt. Dieses Gesicht war schmal, ja, und düster; die Haare machten es düster, aber die Haare waren unwichtig. Es war düster vor Zielstrebigkeit.
    Wir kommen nicht in die Nähe der Herde, wir würden über sie herfallen, Jack, wenn wir uns verwandeln, wir würden …
    Das Gesicht im Mond, ein in Knochen geschnitztes Helldunkel, war das Gesicht eines bösartigen Tieres in dem Augenblick, in dem es zum Sprung ansetzt, mit geneigtem Kopf und einem offenen Mund voller Zähne.
    Wir würden über sie herfallen, sie fressen, sie töten, töten TÖTEN TÖTEN …
    Ein Finger berührte Jacks Schulter und glitt langsam bis zu seiner Taille herunter.
    Jack hatte nur dagestanden, mit seinem Penis in der Hand, die Vorhaut leicht zwischen Daumen und Zeigefinger gehalten, und den Mond angeschaut. Jetzt spritzte ein frischer, harter Strahl Urin heraus.
    »Ich habe dich erschreckt«, sagte Wolf hinter ihm. »Tut mir leid, Jack. Gott hämmre mich.«
    Aber einen Augenblick lang hatte Jack das Gefühl, dass es Wolf keineswegs leid tat.
    Einen Augenblick lang klang es, als grinste Wolf.
    Und Jack war plötzlich ganz sicher, dass er gefressen werden würde.
    Ein Haus aus Ziegelsteinen, schoss es ihm unvermittelt durch den Kopf. Ich habe nicht einmal ein Haus aus Stroh, in das ich flüchten könnte.
    Die Angst überkam ihn, ein trockenes Entsetzen in seinen Adern, das heißer war als jedes Fieber.
    Wer hat Angst vorm bösen Wolf, bösen Wolf, bösen Wolf …
    »Jack?«
    Ich, ich, ich habe Angst vorm bösen Wolf …
    Er drehte sich langsam um.
    Wolfs Gesicht, das nur leicht mit Stoppeln bedeckt gewesen war, als sie in den Schuppen gingen und sich hinlegten, trug jetzt von den Wangenknochen abwärts einen dichten Bart; die Behaarung schien direkt an den Schläfen anzusetzen. Seine Augen leuchteten in einem hellen Orangerot.
    »Wolf, ist alles okay?« fragte Jack mit heiser flüsternder Stimme. Lauter reden konnte er nicht.
    »Ja«, sagte Wolf. »Ich bin mit dem Mond gerannt. Es ist herrlich. Ich rannte – und rannte – und rannte. Aber ich bin okay, Jack.« Wolf lächelte, um zu zeigen, wie okay er war, und entblößte einen Mund voll riesiger Reißzähne. In dumpfem Entsetzen fuhr Jack zurück.
    Wolf bemerkte seinen Ausdruck, und auf seinen rauer und gröber gewordenen Zügen breitete sich Bestürzung aus. Doch unter der Bestürzung – nicht sehr tief darunter – lag etwas anderes. Etwas, das frohlockte und grinste und seine Zähne zeigte. Etwas, das seine Beute jagen würde, bis der Beute vor Entsetzen das Blut aus der Nase strömte, bis sie stöhnte und bettelte. Etwas, das lachen würde, wenn es die schreiende Beute zerfetzte.
    Es würde sogar dann lachen, wenn er die Beute wäre.
    Besonders dann, wenn er die Beute wäre.
    »Jack, es tut mir leid«, sagte er. »Die Zeit kommt heran. Wir müssen etwas tun. Wir müssen – morgen. Wir müssen – wir müssen …« Er blickte auf, und dieser hypnotisierte Ausdruck breitete sich auf seinem Gesicht aus, während er zum Himmel emporblickte.
    Er warf den Kopf zurück und heulte.
    Und Jack glaubte – ganz schwach – zu hören, wie der Wolf im Mond zurückheulte. Entsetzen ergriff von ihm Besitz, leise und vollständig. In dieser Nacht schlief Jack nicht mehr.
     
3
     
    Am nächsten Tag ging es Wolf besser. Etwas besser zumindest, aber seine

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