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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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6 führte, riss sie das Kind hoch und ergriff die Flucht.
    Der Verkäufer vom Süßigkeitenstand, die Kassiererin und ein hochgewachsener Mann in einem Sportjackett, das aussah, als hätte er es von einem Zuhälter geerbt, bildeten eine dichte kleine Gruppe. Jack vermutete, dass es sich bei dem Mann in dem karierten Jackett und den weißen Schuhen um den Geschäftsführer handelte.
    Die Türen der anderen Säle des Kinokomplexes hatten sich spaltbreit geöffnet, und Gesichter blinzelten aus der Dunkelheit, um herauszufinden, was der Lärm zu bedeuten hatte. Jack kamen sie vor wie Dachse, die aus ihrem Bau herauslugen.
    »Verschwindet!« sagte der Mann in dem karierten Jackett. »Verschwindet. Ich habe bereits die Polizei gerufen, sie wird in fünf Minuten hier sein.«
    Einen Scheiß hast du getan, dachte Jack und verspürte einen Hoffnungsstrahl. Dazu hattest du gar keine Zeit. Und wenn wir schnell abhauen, haben wir vielleicht – aber wirklich nur vielleicht – das Glück, dass du dir nicht die Mühe machst.
    »Wir gehen schon«, sagte er. »Es tut mir wirklich leid. Es ist nur – mein großer Bruder ist Epileptiker und hat gerade einen Anfall gehabt. Und wir – wir haben seine Medizin vergessen.«
    Bei dem Wort Epileptiker wichen die Kassiererin und der Verkäufer zurück, als hätte er Aussätziger gesagt.
    »Komm, Wolf.«
    Er sah, wie der Geschäftsführer den Blick senkte, wie sich seine Lippen angewidert verzogen. Jack folgte seinem Blick und sah den großen dunklen Fleck auf dem Vorderteil von Wolfs Overall. Wolf hatte sich in die Hose gemacht.
    Wolf sah es gleichfalls. Vieles in Jacks Welt war ihm fremd, aber anscheinend wusste er recht gut, was dieser angewiderte Blick bedeutete. Er brach in lautes, durchdringendes, herzzerreißendes Schluchzen aus.
    »Tut mir leid, Jack. Tut Wolf so LEID!«
    »Schaff ihn hier raus«, sagte der Geschäftsführer verächtlich und wandte sich zum Gehen.
    Jack legte einen Arm um Wolf und führte ihn auf die Tür zu. »Komm, Wolf«, sagte er. Er sprach ganz ruhig und mit ehrlicher Anteilnahme. Noch nie zuvor hatte ihm Wolf so viel bedeutet wie in diesem Augenblick. »Komm, es war meine Schuld, nicht deine.«
    »Tut mir leid«, weinte Wolf verzweifelt. »Ich bin zu nichts gut, Gott hämmre mich, zu gar nichts.«
    »Du bist zu vielem gut«, sagte Jack. »Komm.«
    Er stieß die Tür auf, und sie traten hinaus in die dünne Spätoktober-Wärme.
    Die Frau mit dem Kind war gut zwanzig Meter entfernt, aber als sie Jack und Wolf sah, schob sie sich rückwärts auf ihren Wagen zu und hielt dabei das Kind vor sich wie ein in die Enge getriebener Gangster eine Geisel.
    »Lass ihn nicht in meine Nähe kommen!« kreischte sie. »Lass dieses Monster nicht in die Nähe von meinem Baby kommen! Hast du gehört? Lass ihn nicht in meine Nähe kommen!«
    Jack überlegte, was er sagen konnte, um sie zu beruhigen, aber ihm fiel nichts ein. Er war zu müde.
    Sie machten sich auf den Weg und überquerten den großen Parkplatz. Auf halbem Wege zur Straße taumelte er, und die Welt wurde einen Augenblick lang grau.
    Er war sich nur vage bewusst, dass Wolf ihn hochhob und auf seine Arme packte wie ein Kind. Halb bewusst, dass Wolf weinte.
    »Jack, es tut mir so leid, bitte, du darfst Wolf nicht hassen, ich kann ein guter alter Wolf sein, du wirst es sehen …«
    »Ich hasse dich nicht«, sagte Jack. »Ich weiß, dass du – dass du ein guter alter …«
    Bevor er den Satz beenden konnte, war er eingeschlafen. Als er aufwachte, war es Abend und Muncie lag hinter ihnen. Wolf hatte die Hauptstraßen gemieden und sich unbefestigte Landstraßen und Feldwege ausgesucht. Nicht im Mindesten verwirrt durch das Fehlen von Hinweisschildern und die Vielzahl der Möglichkeiten war er mit dem unfehlbaren Instinkt eines Zugvogels ständig nach Westen gelaufen.
    In dieser Nacht schliefen sie in einem leeren Haus nördlich von Cammack, und am Morgen hatte Jack das Gefühl, sein Fieber wäre etwas gesunken.
    Im Laufe des Vormittags – es war der Vormittag des 28. Oktober – stellte Jack fest, dass die Behaarung auf Wolfs Handflächen zurückgekehrt war.

 
Neunzehntes Kapitel
     
    Wolf rennt mit dem Mond
     
    1
     
    Diese Nacht verbrachten sie in den Trümmern eines ausgebrannten Hauses mit einem ausgedehnten Feld an der einen und einem Wäldchen an der anderen Seite. Am entgegengesetzten Ende des Feldes stand ein Farmhaus, aber Jack glaubte, dass sie sicher untergebracht waren, solange sie sich ruhig verhielten und

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