Der Talisman
Wolf den letzten Rest seiner Selbstbeherrschung mit beiden Händen umklammerte. Sie setzten sich, Wolf am Gang mit unbequem hochgezogenen Knien; die Schale mit dem Popcorn (das er nicht mehr mochte) drückte er an die Brust.
Vor ihnen flammte kurz das gelbe Licht eines Streichholzes auf. Jack roch das trockene Aroma von Pot, ein in Kinos so alltäglicher Geruch, dass man ihn vergessen konnte, sobald man ihn identifiziert hatte. Wolf roch einen Waldbrand.
»Jack …«
»Pst. Der Film fängt an.«
Und ich schlafe jetzt.
Mit welchem Heroismus Wolf die nächsten Paar Minuten durchstand, konnte Jack nicht ahnen. Wolf wusste es selbst nicht. Er wusste nur, dass er versuchen musste, diesen Alptraum um Jacks willen durchzustehen. Es kann nichts Schlimmes sein, dachte er, sieh doch, Wolf, Jack ist am Einschlafen, gleich hier und jetzt. Und du weißt, dass Jack dich nicht an einen Wehtut-Ort bringen würde, also halt aus – wart’s ab – Wolf! – es ist nichts Schlimmes …
Aber Wolf war ein zyklisches Geschöpf, und sein Zyklus näherte sich dem monatlichen Höhepunkt. All seine Instinkte waren geschärft und ließen sich kaum noch unterdrücken. Sein Verstand sagte ihm, dass ihm hier nichts passieren würde, dass Jack ihn nicht hergebracht hätte, wenn es anders wäre. Aber das war dasselbe, wie wenn sich ein Mann mit einer juckenden Nase sagt, er dürfte in der Kirche nicht niesen, weil es sich nicht gehört.
Er saß da, roch einen Waldbrand in der dunklen, stinkenden Höhle, fuhr jedes Mal zusammen, wenn sich ein Schatten den Gang entlangbewegte, wartete dumpf darauf, dass etwas aus dem Dunkel über ihm herunterstürzte. Und dann öffnete sich am vorderen Ende der Höhle ein Zauberfenster, und er saß da im scharfen Gestank seines Angstschweißes, die Augen weit aufgerissen, das Gesicht eine Maske des Grausens, als Autos aufeinander prallten und umstürzten, als Häuser brannten, als ein Mann einen anderen verfolgte.
»Vorschau«, murmelte Jack. »Sagte doch, es würde dir gefallen.«
Dann kamen Stimmen. Eine sagte Rauchen verboten. Eine sagte Keine Abfälle auf den Boden werfen. Eine sagte Sonderpreise für Gruppen. Eine sagte Verbilligte Karten jeden Werktag bis sechzehn Uhr.
»Wolf, sie haben uns übers Ohr gehauen«, murmelte Jack. Er wollte noch etwas sagen, aber es verwandelte sich in ein Schnarchen.
Eine letzte Stimme sagte Und nun unser Hauptfilm, und da verlor Wolf endgültig die Beherrschung. Bakshis Herr der Ringe lief mit Dolby-Sound, und die Vorführer hatten Anweisung, am Nachmittag voll aufzudrehen, denn das war die Zeit, in der die Potraucher erschienen, und die Potraucher hatten den Dolby-Sound gern laut.
Ein kreischendes, misstönendes Schmettern von Blechinstrumenten. Das Zauberfenster ging wieder auf, und jetzt konnte Wolf das Feuer sehen – bewegte Rot- und Orangetöne.
Er heulte, sprang auf und riss Jack mit, der mehr als nur halb schlief.
»Jack!« schrie er. »Raus hier! Schnell raus hier! Wolf! Da, das Teuer! Wolf! Wolf!«
»Runter da vorne!« rief jemand.
»Halt die Klappe, du Träne!« brüllte ein anderer.
Die Tür in der Rückwand von Saal 6 wurde geöffnet. »Was ist hier los?«
»Sei still, Wolf!« zischte Jack. »Um Himmels willen …«
»OWWWWW-OOOOOOOOOO!« heulte Wolf.
Eine Frau erhaschte einen Blick auf Wolf, als das weiße Licht aus dem Foyer auf ihn fiel. Sie kreischte und begann, ihren kleinen Sohn am Arm aus dem Saal zu zerren. Sie zerrte ihn buchstäblich, denn der Junge war auf die Knie gefallen und rutschte auf dem mit Popcorn übersäten Teppichboden des Mittelgangs entlang. Einer seiner Schuhe war ihm vom Fuß geglitten.
»OWWWWWWW-OOOOOOOOOOOOOOOOHHHHHHHOO OOOOHHHHOOOO!«
Der drei Reihen vor ihnen sitzende Potraucher hatte sich umgedreht und betrachtete sie mit vernebeltem Interesse. Er hielt einen glimmenden Joint in der Hand; eine Reservezigarette steckte hinter seinem Ohr. »Ganz – weit weg«, artikulierte er mühsam. »Werwölfe von London schlagen wieder zu, richtig?«
»Okay«, sagte Jack. »Okay, wir verziehen uns. Kein Problem. Aber – aber mach das nicht noch einmal, hörst du? Okay?«
Er führte Wolf hinaus. Die Erschöpfung hatte ihn wieder überfallen.
Das grelle Licht des Foyers stach ihm in die Augen. Die Frau, die den kleinen Jungen aus dem Saal gezerrt hatte, war in eine Ecke zurückgewichen und hatte die Arme schützend um den Jungen geschlungen. Als sie sah, wie Jack den noch immer heulenden Wolf durch die Doppeltüren von Saal
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