Der Talisman
1973. In einer Ecke des fensterlosen Schuppens erweckte ein wirrer Haufen toten Holzes den Eindruck, als hätte jemand einmal den halbherzigen Versuch unternommen, einen Vorrat an Brennmaterial anzulegen. Im Übrigen war der Schuppen leer. Jack kehrte der offenen Tür den Rücken und ließ den Blick hilflos über die Hänge der Mulde schweifen.
Alte Reifen hier und dort zwischen dem Unkraut, ein Bündel verblichener und verrottender politischer Broschüren, auf denen noch der Name LUGAR zu lesen war, ein verbeultes blauweißes Zulassungsschild aus Connecticut, Bierflaschen, deren Etiketten verblichen waren – kein Wolf. Jack legte die Hände als Trichter an den Mund. »He, Wolf! Ich bin wieder da!« Er erwartete keine Antwort, und er bekam keine. Wolf war fort.
»Scheiße«, sagte Jack und stützte die Hände auf die Hüften. Widerstrebende Gefühle – Erbitterung, Erleichterung und Besorgnis – überkamen ihn. Wolf war verschwunden, um Jack das Leben zu retten – etwas anderes konnte sein Verschwinden nicht bedeuten. Sobald sich Jack auf den Weg nach Daleville gemacht hatte, war sein Freund abgehauen. Er war auf seinen unermüdlichen Beinen davongelaufen, und inzwischen war er meilenweit von hier entfernt und wartete auf den Mondaufgang. Wolf konnte sonst wo sein.
Auf dieser Erkenntnis beruhte ein Teil von Jacks Besorgnis. Es war möglich, dass Wolf in den Wald gelaufen war, der am Ende des langen, an die Mulde angrenzenden Feldes begann, und sich in den Wäldern an Kaninchen und Feldmäusen gütlich tat, an Maulwürfen und Dachsen und allem, was da sonst noch kreuchte und fleuchte. Wogegen nicht das Geringste einzuwenden gewesen wäre. Aber es konnte ebenso gut sein, dass Wolf Farmtiere erschnupperte und sich damit in wirkliche Gefahr brachte. Und es konnte ebenso gut sein, dass er den Farmer und seine Frau erschnupperte. Oder, noch schlimmer, er konnte sich einer der etwas weiter nördlich gelegenen Städte genähert haben. Jack hielt es für durchaus möglich, dass ein verwandelter Wolf imstande war, mindestens ein halbes Dutzend Menschen zu zerreißen, bevor er selbst von jemandem getötet wurde.
»Verdammt, verdammt, verdammt«, sagte Jack und begann, den Abhang am jenseitigen Ende der Mulde hinaufzuklettern. Er hatte nicht die geringste Hoffnung, Wolf zu entdecken – wahrscheinlich würde er ihn nie wieder sehen. Nach ein paar Tagen auf der Straße würde er wahrscheinlich in irgendeiner Kleinstadtzeitung einen haarsträubenden Bericht über das Blutbad finden, das ein riesiger Wolf angerichtet hatte, der offenbar auf der Suche nach Nahrung die Hauptstraße entlanggewandert war. Und es würden weitere Namen genannt werden, Namen wie Thielke, Heidel, Hagen …
Zuerst richtete er den Blick auf die Straße, hoffte selbst jetzt noch, Wolfs massige Gestalt Richtung Osten entschwinden zu sehen – weil er Jack bei seiner Rückkehr aus Daleville nicht begegnen wollte. Die Straße war ebenso verlassen wie der Schuppen.
Natürlich.
Die Sonne, eine ebenso verlässliche Uhr wie die an seinem Handgelenk, war schon ein gutes Stück von ihrem Zenit herabgesunken.
Verzweifelt wendete sich Jack dem langen Feld und dem darunterliegenden Waldrand zu. Nichts bewegte sich außer den Stoppeln, die sich unter einer kühlen Brise beugten.
JAGD NACH KILLERWOLF GEHT WEITER würde die Schlagzeile lauten – nach ein paar Tagen auf der Straße.
Dann bewegte sich tatsächlich etwas am Waldrand, ein großer brauner Felsbrocken, und Jack erkannte, dass es Wolf war. Er hatte sich hingehockt und starrte Jack an.
»Oh, du nichtsnutziger Bursche du«, sagte Jack, und inmitten seiner Erleichterung wusste er, dass ein Teil von ihm insgeheim glücklich gewesen war über Wolfs Verschwinden. Er tat einen Schritt auf ihn zu.
Wolf bewegte sich nicht, aber seine Haltung wurde irgendwie intensiver, elektrischer und wacher. Jacks nächster Schritt erforderte mehr Mut als der erste.
Zwanzig Meter näher bemerkte er, dass Wolf sich weiter verändert hatte. Sein Haar war noch dichter, noch üppiger geworden, es sah aus wie frisch gewaschen und gefönt; und sein Bart schien wirklich gleich unter den Augen zu beginnen. Selbst in dieser niedergekauerten Stellung wirkte sein ganzer Körper breiter und kraftvoller. Seine Augen funkelten orangerot und waren mit flüssigem Feuer gefüllt.
Jack zwang sich, näher heranzugehen. Er wäre fast stehen geblieben, als er zu bemerken glaubte, dass Wolf jetzt Pfoten hatte anstelle von Händen, aber
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