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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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er nicht in der Nähe des Telefons im Wohnzimmer gesehen werden. Aus dem geschlossenen Schlafzimmer kam nur Stille.
    »Mom?« sagte er.
    »Ja, Jacky?« Er hörte ein leichtes Beben in ihrer Stimme.
    »Bist du okay? Ist alles in Ordnung?«
    »Ja. Natürlich.« Ihre Schritte näherten sich leise der Tür, die sich einen Spaltbreit öffnete. Ihre Augen begegneten sich, ihre blauen mit seinen blauen. Lily stieß die Tür vollständig auf. Wieder trafen ihre Augen ineinander; es war ein Augenblick von bestürzender Intensität. »Natürlich ist alles in Ordnung. Warum sollte es anders sein?« Ihre Augen lösten sich voneinander. Irgendein Wissen hatte zwischen ihnen gehangen, aber welches? Jack fragte sich, ob sie wusste, dass er ihr Gespräch mitgehört hatte; dann ging ihm auf, dass das Wissen, das sie eben – zum ersten Mal – miteinander geteilt hatten, die Tatsache ihrer Krankheit war.
    »Nun ja«, sagte er, jetzt verlegen. Die Krankheit seiner Mutter, dieses schwere, unaussprechliche Thema, wuchs zwischen ihnen zu widerwärtiger Größe heran. »Ich weiß nicht recht. Onkel Morgan schien …« Er zuckte die Achseln.
    Lily zitterte, und Jack drängte sich eine weitere Erkenntnis auf. Seine Mutter hatte Angst – mindestens ebenso viel Angst wie er.
    Sie steckte eine Zigarette in den Mund und ließ ihr Feuerzeug aufschnappen. Ein weiterer bohrender Blick aus ihren dunklen Augen. »Mach dir wegen diesem Ekel keine Sorgen, Jack. Mich ärgert nur, dass ich es anscheinend nicht fertig bringe, ihm zu entkommen. Deinem Onkel Morgan macht es Spaß, mich herumzukommandieren.« Sie stieß grauen Rauch aus. »Aber der Appetit aufs Frühstück ist mir vergangen. Geh hinunter und lass dir diesmal ein richtiges Frühstück servieren.«
    »Komm doch mit«, sagte er.
    »Ich möchte eine Weile allein sein, Jack. Versuch das zu verstehen.«
    Versuch das zu verstehen. Vertrau mir.
    Dinge, die Erwachsene sagten, wenn sie ganz etwas anderes meinten.
    Was sie in Wirklichkeit sagte, war: Ich möchte schreien, ich ertrage das nicht mehr, verschwinde, verschwinde 1 .
    »Soll ich dir etwas mitbringen?«
    Sie schüttelte den Kopf, lächelte ihn tapfer an, und er musste das Zimmer verlassen, obwohl auch ihm nicht mehr nach Frühstück zumute war. Er wanderte den Korridor entlang zu den Fahrstühlen. Wieder gab es nur einen Ort, zu dem er gehen konnte, aber diesmal wusste er es, noch bevor er die düstere Halle und den aschengesichtigen, tadelsüchtigen Tagesportier erreicht hatte.
     
    4
     
    Speedy Parker war nicht in dem kleinen, rotgestrichenen Büroschuppen; er war nicht draußen auf der langen Pier, nicht in der Arkade, in der die beiden Alten jetzt wieder Skee-Ball spielten, als wäre es ein Krieg, von dem beide wussten, dass sie ihn verlieren würden; er war nicht in der staubigen Ödnis unter der Achterbahn. Jack Sawyer drehte sich ziellos in dem grellen Sonnenlicht und ließ seine Augen über die leeren Wege und die verlassenen Attraktionen des Vergnügungsparks wandern. Seine Angst verstärkte sich. Wenn Speedy nun etwas passiert war? Es war unmöglich, aber wenn Onkel Morgan von Speedy erfahren hatte (aber was sollte er erfahren haben?) und wenn er … Vor seinem geistigen Auge sah Jack den WILD CHILD-Lieferwagen um eine Ecke biegen und mit knirschendem Getriebe beschleunigen.
    Er gab sich einen Ruck, ohne recht zu wissen, wohin er gehen sollte. In der panischen Verfassung, in der er sich befand, sah er Onkel Morgan an einer Reihe von Zerrspiegeln vorüberlaufen, die ihn in monströse und deformierte Gestalten verwandelten. Hörner wuchsen auf seiner kahlen Stirn, ein Buckel wölbte sich zwischen seinen massigen Schultern, seine breiten Finger wurden zu Schaufeln. Jack bog scharf nach rechts ab und bewegte sich auf ein merkwürdig geformtes, fast rundes Gebäude aus schmalen weißen Brettern zu.
    Plötzlich hörte er ein rhythmisches tap-tap-tap herausdringen. Er lief auf das Geräusch zu – ein Schraubenschlüssel, der auf ein Rohr schlug, ein Hammer, der auf einen Amboss traf, ein Arbeitsgeräusch. An der Lattenwand fand er einen Türknopf und zog eine zerbrechliche Lattentür auf.
    Jack tappte durch die gestreifte Dunkelheit, und das Geräusch wurde lauter. Die Dunkelheit ringsum wechselte ihre Form, änderte ihre Dimensionen. Er streckte die Hand aus und berührte Segeltuch. Es glitt beiseite, und schon stand er in leuchtendgelbem Licht. »Travelling Jack«, sagte Speedys Stimme.
    Jack wandte sich der Stimme zu und sah den

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