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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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gehabt. Er hatte, erinnerte sich Jack, gerade den Punkt erreicht, an dem er nicht mehr in jeder freien Minute an seinen Vater dachte. Viele Monate, nachdem Phil Sawyer bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen war, war sein Schatten, sein Fehlen auf Jack eingestürmt, immer dann, wenn der Junge am wenigsten damit rechnete. Jack war erst sieben, aber er wusste, dass man ihm einen Teil seiner Kindheit gestohlen hatte – sein sechsjähriges Ich kam ihm jetzt unvorstellbar simpel und gedankenlos vor –, aber er hatte gelernt, der Kraft seiner Mutter zu vertrauen. Jetzt schienen keine formlosen und grausamen Bedrohungen mehr in dunklen Ecken zu lauern, in Schränken mit halboffenen Türen, schattigen Straßen, leeren Räumen.
    Aber die Ereignisse jenes ziellosen Sommernachmittags im Jahre 1976 hatten seinen wiedergewonnenen Frieden gemordet. In den folgenden sechs Monaten schlief Jack bei eingeschaltetem Licht, und Alpträume zerrütteten seinen Schlaf.
    Der Wagen kam ein Stück oberhalb des dreigeschossigen weißen Hauses im Kolonialstil zum Stehen, in dem die Sawyers wohnten. Es war ein grüner Wagen gewesen, mehr wusste Jack nicht, außer dass es kein Mercedes gewesen war – Mercedes war die einzige Marke, die er auf Anhieb erkannte. Der Mann am Steuer hatte das Fenster heruntergekurbelt und Jack zugelächelt. Der erste Gedanke des Jungen war gewesen, dass er diesen Mann kannte – der Mann hatte Phil Sawyer gekannt und wollte nun seinem Sohn guten Tag sagen. Irgendwie vermittelte das Lächeln des Mannes diesen Eindruck, ein müheloses, ungezwungenes, vertrautes Lächeln. Ein anderer Mann beugte sich auf dem Beifahrersitz vor und blickte Jack durch eine Blindenbrille hindurch an – die Gläser waren rund und so dunkel, dass sie fast schwarz wirkten. Dieser zweite Mann trug einen reinweißen Anzug. Der Fahrer ließ sein Lächeln noch einen Augenblick länger wirken.
    Dann sagte er: »Weißt du, wie wir zum Beverly Hills Hotel kommen, Kleiner?« Also war er doch ein Fremder. Jack spürte seltsamerweise eine leichte Enttäuschung in sich aufflackern.
    Er deutete die Straße hinauf. Das Hotel lag gleich da oben, so nahe, dass sein Vater immer zu Fuß ging, wenn er zu einem Frühstück in der Loggia verabredet war.
    »Geradeaus?« fragte der Fahrer, immer noch lächelnd.
    Jack nickte.
    »Du bist ein kluger kleiner Bursche«, erklärte ihm der Mann, und der andere Mann kicherte. »Hast du eine Ahnung, wie weit es ist?« Jack schüttelte den Kopf. »Vielleicht ein paar Blocks?«
    »Ja.« Er hatte begonnen, sich unbehaglich zu fühlen. Der Fahrer lächelte noch immer, aber jetzt wirkte sein Lächeln grell und hart und leer. Und das Kichern des Beifahrers hatte wie feuchtes Pfeifen geklungen, so als saugte er an etwas Nassem.
    »Fünf vielleicht? Oder sechs? Was meinst du?«
    »Vielleicht fünf oder sechs, glaube ich«, sagte Jack und trat zurück.
    »Ja, ich bin dir wirklich sehr dankbar, Kleiner«, sagte der Fahrer. »Wie wär’s mit etwas Süßem?« Er streckte eine geschlossene Faust durchs Fenster, drehte die Handfläche nach oben und öffnete sie; eine Tootsie Roll. »Das ist für dich. Nimm nur.«
    Jack trat zögernd vor, hörte in Gedanken die tausend Warnungen vor fremden Männern und Süßigkeiten. Aber dieser Mann saß noch immer in seinem Auto; wenn er etwas versuchte, konnte Jack schon einen halben Block entfernt sein, bevor er die Tür geöffnet hatte. Und das Geschenk nicht anzunehmen, kam ihm irgendwie unhöflich vor. Er trat noch einen Schritt näher. Er blickte dem Mann in die Augen, die blau waren und so grell und hart wie sein Lächeln. Jacks Instinkt befahl ihm, die Hand zu senken und davonzulaufen. Er ließ zu, dass sich seine Hand ein paar Zentimeter näher an die Tootsie Roll herabschob. Dann taten seine Finger einen kurzen Griff danach.
    Die Hand des Fahrers schloss sich um Jacks Hand, und der Beifahrer mit der Blindenbrille lachte laut auf. Verblüfft blickte Jack in die Augen des Mannes, der seine Hand gepackt hatte, und sah, wie ihre Farbe von Blau zu Gelb zu wechseln begann – glaubte zu sehen, wie sie zu wechseln begann.
    Aber später waren sie gelb.
    Der Mann auf dem Beifahrersitz stieß die Tür auf und kam hinten um den Wagen herum. Er trug ein kleines goldenes Kreuz am Revers seines seidenen Jacketts. Jack versuchte verzweifelt, sich loszureißen, aber der Fahrer lächelte grell und leer und hielt ihn fest. »NEIN!« schrie Jack. »HILFE!«
    Der Mann mit der dunklen Brille öffnete die

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