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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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Wachmann neben einem teilweise auseinander genommenen Karussell auf dem Boden sitzen. Er hielt einen Schraubenschlüssel in der Hand, und vor ihm lag ein weißes Pferd mit schaumiger Mähne und einem langen, silbernen Pfahl, der es vom Sattelknopf bis zum Bauch durchbohrte. Speedy legte den Schraubenschlüssel beiseite. »Bist du jetzt zum Reden bereit, mein Junge?« fragte er.

 
Viertes Kapitel
     
    Jack überschreitet die Grenze
     
    1
     
    »Ja, ich bin bereit«, sagte Jack mit gelassener Stimme; dann brach er in Tränen aus.
    »Oh, Travelling Jack«, sagte Speedy; er erhob sich und trat zu ihm. »Oh, Junge, nimm’s nicht so schwer, nimm’s nicht so schwer …«
    Aber Jack musste es schwer nehmen. Plötzlich war alles zu viel für ihn, viel zu viel, und er musste entweder weinen oder unter einer großen schwarzen Welle versinken – einer Welle, die kein leuchtender Goldstreifen erhellen konnte. Die Tränen schmerzten, aber er hatte das Gefühl, die Angst würde ihn umbringen, wenn er sie nicht herausweinte.
    »Weine nur, Travelling Jack«, sagte Speedy und legte die Arme um ihn. Jack presste das heiße, verschwollene Gesicht an Speedys dünnes Hemd, registrierte den Geruch des Mannes – etwas wie Old Spice, etwas wie Zimt, etwas wie Bücher, die seit langem nicht aus den Regalen genommen wurden. Gute Düfte, beruhigende Düfte. Seine Arme tasteten um Speedy herum; unter den Handflächen fühlte er die Knochen in Speedys Rücken, dicht unter der Oberfläche, nur dünn mit magerem Fleisch bedeckt.
    »Weine nur, wenn es dir hilft«, sagte Speedy und wiegte ihn dabei. »Manchmal hilft es. Ich weiß Bescheid. Speedy weiß, welchen Weg du hinter dir hast, Travelling Jack, und welchen vor dir, und wie müde du bist. Also weine nur, wenn es dir hilft.«
    Die Worte verstand Jack kaum – er hörte nur die Laute, besänftigend und beruhigend.
    »Meine Mutter ist wirklich krank«, sagte er schließlich gegen Speedys Brust. »Ich glaube, sie kam her, um den alten Partner meines Vaters loszuwerden – Mr. Morgan Sloat.« Er schnüffelte heftig, ließ Speedy los, trat zurück und wischte mit den Handballen über die verschwollenen Augen. Es überraschte ihn, dass er überhaupt nicht verlegen war sonst hätte er sich seiner Tränen geschämt … fast so, als hätte er sich in die Hose gemacht. Lag es daran, dass seine Mutter immer so zäh gewesen war? Zum Teil mochte das tatsächlich der Grund sein; Lily Cavanaugh hatte wenig für Tränen übrig.
    »Aber das ist nicht der einzige Grund, aus dem sie herkam, nicht wahr?«
    »Nein«, sagte Jack leise. »Ich glaube – sie kam her, um zu sterben.« Beim letzten Wort hob sich unwillkürlich seine Stimme; sie krächzte wie ein ungeöltes Scharnier.
    »Vielleicht«, sagte Speedy und blickte Jack unverwandt an. »Und vielleicht bist du hier, um sie zu retten. Sie – und eine Frau, genau wie sie.«
    »Wen?« fragte Jack mit tauben Lippen. Er wusste, wen. Er kannte ihren Namen nicht, aber er wusste, wer sie war.
    »Die Königin«, sagte Speedy. »Sie heißt Laura DeLoessian, und sie ist die Königin der Region.«
     
    2
     
    »Hilf mir«, grunzte Speedy. »Pack die alte Silver Lady unter dem Schwanz. Damit trittst du der Lady zwar zu nahe, aber ich denke, sie hat nichts dagegen, wenn du mir hilfst, sie wieder dahin zu bringen, wo sie hingehört.«
    »Heißt sie so? Silver Lady?«
    »Yeah-bob. So ist es«, sagte Speedy und zeigte grinsend ein Dutzend Zähne in Ober- und Unterkiefer. »Alle Karussellpferde haben Namen, wusstest du das nicht? Fass an, Travelling Jack.«
    Jack griff unter den hölzernen Schwanz des weißen Pferdes und verschränkte die Finger ineinander. Grunzend legte Speedy seine großen braunen Hände um die Vorderbeine der Lady. Gemeinsam trugen sie das hölzerne Pferd hinüber zum schrägen Teller des Karussells, den Pfahl, dessen unteres Ende eine dicke Schicht Schmieröl schwärzte, abwärts gerichtet.
    »Etwas mehr nach links …« keuchte Speedy. »Ja … und nun pflock sie auf, Travelling Jack! Pflock sie richtig auf!«
    Sie ließen den Pfahl einrasten und traten dann zurück, Jack keuchend, Speedy lächelnd und mit pfeifendem Atem. Der Schwarze wischte sich den Schweiß von der Stirn und lächelte Jack an.
    »Sind wir nicht tüchtig?«
    »Wenn Sie es sagen«, erwiderte Jack lächelnd.
    »Ich sage es! Jawohl, das tue ich!« Speedy griff in die Gesäßtasche und zog die dunkelgrüne Halbliterflasche heraus. Er schraubte den Verschluss ab, trank – und für

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