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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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Orris sah trotzdem noch besser. Er konnte den Verlauf jedes winzigen Risses in der Seitenwand der Kutsche verfolgen, konnte die Feinheit der Netzvorhänge bewundern, die durch die Fenster hereinwehten. Kokain hatte Sloats Nase verstopft, seinen Geruchssinn beeinträchtigt; Orris’ Nase war völlig klar, und er roch Staub und Erde und Luft mit geradezu vollkommener Unfehlbarkeit – es war, als wäre er imstande, jedes einzelne Molekül wahrzunehmen und zu würdigen.
    Hinter sich zurückgelassen hatte er ein leeres Doppelbett, in dem sich noch die Form seines massigen Körpers abzeichnete. Er saß auf einer Bank, die luxuriöser war als der Sitz jedes Rolls-Royce, der je gebaut wurde, und fuhr Richtung Westen dem Rand des Grenzlandes entgegen, zu einem Ort, der die Grenzland-Station genannt wurde. Zu einem Mann namens Anders. Er wusste diese Dinge, wusste genau, wo er war, weil Orris noch immer da war, in seinem Kopf – weil Orris zu ihm sprach, wie in Tagträumen die rechte Seite des Gehirns mit der linken sprechen mochte, mit leiser, aber vollkommen klarer Stimme. Sloat hatte sich die wenigen Male, bei denen Orris in das übergewechselt war, was Jack inzwischen die amerikanische Region nannte, mit der gleichen, leisen Unterbewußtseinsstimme mit ihm unterhalten. Wenn man überwechselte und in den Körper seines Twinners einfuhr, war die Folge eine Art gutartiger Besessenheit. Sloat hatte von gewaltsameren Fällen von Besessenheit gelesen, und obwohl ihn das Thema nicht sonderlich interessierte, hatte er doch vermutet, dass die armen, unglücklichen Tröpfe, denen das widerfuhr, von verrückten Wanderern aus anderen Welten übernommen worden waren; vielleicht war es auch die amerikanische Welt gewesen, die sie um den Verstand gebracht hatte. Das erschien ihm mehr als möglich; jedenfalls hatte sie einiges Unheil im Kopf des armen alten Orris angerichtet, als er die ersten zwei oder drei Mal übergewechselt war – er war restlos begeistert und gleichzeitig entsetzt gewesen.
    Die Kutsche tat einen gewaltigen Satz. Im Grenzland musste man die Straßen nehmen, wie sie waren, und Gott danken, dass es sie überhaupt gab. Orris setzte sich wieder bequem hin; sein Klumpfuß schmerzte dumpf.
    »Legt euch ins Geschirr, Gott hämmre euch«, murmelte der Kutscher auf seinem Bock. Seine Peitsche pfiff und knallte. »Hüa, ihr Söhne von toten Huren! Hüa!«
    Sloat lächelte vor Freude darüber, hier zu sein, wenn auch nur für ein paar Augenblicke. Er wusste bereits, was er erfahren wollte; Orris’ Stimme hatte es ihm mitgeteilt. Noch vor dem Morgen würde die Kutsche bei der Grenzland-Station – der Thayer School in der anderen Welt – eintreffen. Vielleicht wurde man ihrer habhaft, wenn sie sich noch dort aufhielten; wenn nicht, wartete das Verheerte Land auf sie. Der Gedanke, dass Richard jetzt bei dem Sawyer-Bengel war, schmerzte und erboste ihn, aber wenn ein Opfer gebracht werden musste – nun, auch Orris hatte seinen Sohn verloren und es überlebt.
    Der einzige Umstand, der Jack bisher am Leben erhalten hatte, war die Tatsache seiner Einzelnatur; sie konnte Sloat an den Rand des Wahnsinns treiben. Wenn der Bengel flippte, befand er sich immer an einem Ort, der dem entsprach, den er verlassen hatte. Sloat dagegen kam immer dort an, wo Orris war, und das konnte viele Meilen von der Stelle entfernt sein, wo er eigentlich sein musste – wie es auch jetzt der Fall war. Auf dem Rastplatz hatte er Glück gehabt, aber Sawyers Glück war größer gewesen.
    »Aber jetzt wird dich das Glück bald genug verlassen, mein kleiner Freund«, sagte Orris. Die Kutsche tat einen weiteren heftigen Satz. Er verzog das Gesicht, dann lächelte er. Selbst wenn sonst nichts geschah, würde die Lage sich von selbst vereinfachen, wenn es zur letzten Konfrontation kam.
    Genug.
    Er schloss die Augen und verschränkte die Arme. Einen Augenblick später spürte er abermals dumpfen Schmerz in dem deformierten Fuß – und als er die Augen aufschlug, blickte Sloat zur Decke seines Schlafzimmers empor. Wie immer gab es einen Moment, in dem die zusätzlichen Pfunde mit bedrückender Schwere auf ihn einstürzten, in dem sein Herz schneller zu schlagen begann.
    Dann war er aufgestanden und hatte die Jet-Vermietung angerufen. Siebzig Minuten später war er vom Los Angeles Airport gestartet. Während der abrupten Steillage der Lear nach dem Start fühlte er sich, wie er sich immer fühlte – als hätte man ihm eine Lötlampe an den Hintern geschnallt.

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