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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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Um fünf Uhr fünfzig mittelamerikanischer Zeit war die Maschine in Springfield gelandet, ungefähr gleichzeitig mit Orris’ Ankunft bei der Grenzland-Station in der Region. Sloat hatte bei Hertz eine Limousine gemietet, und nun war er da. Das Reisen auf amerikanische Art hatte seine Vorteile.
    Er stieg aus dem Wagen, und gerade als die morgendlichen Glocken zu läuten begannen, betrat er den Campus von Thayer, den sein Sohn so kurze Zeit zuvor verlassen hatte.
    Alles war wie immer am frühen Morgen eines Wochentags in Thayer. Die Glocken in der Kapelle spielten eine normale Morgenmelodie, etwas Klassisches, das eine gewisse Ähnlichkeit mit dem »Te Deum« hatte, es aber nicht war. Schüler passierten Sloat auf ihrem Weg zum Speisesaal oder zum Frühsport. Vielleicht waren sie ein wenig stiller als gewöhnlich, und allen war ein Ausdruck gemeinsam – blass und ein wenig benommen, als hätten sie einen beunruhigenden Traum hinter sich.
    Was natürlich der Fall war, dachte Sloat. Er blieb einen Augenblick vor Nelson House stehen und betrachtete es nachdenklich. Sie wussten einfach nicht, wie unwirklich sie im Grunde waren, wie unwirklich alle Geschöpfe sein mussten, die an so dünnen Nahtstellen zwischen Welten lebten. Er bog um die Ecke und beobachtete einen Hausmeister, der Glasscherben aufsammelte, die wie falsche Diamanten auf dem Gelände herumlagen. Über seinen gebeugten Rücken hinweg konnte Sloat in den Gemeinschaftsraum von Nelson House hineinsehen, in dem ein ungewöhnlich stiller Albert der Klops saß und mit leerem Blick auf ein Bugs Bunny-Heft starrte.
    Sloat machte sich auf den Weg zur Station, und seine Gedanken kehrten zu dem Tag zurück, an dem Orris zum ersten Mal in diese Welt übergewechselt war. Er dachte an diesen Tag mit einer Nostalgie, die, wenn man es recht bedachte, fast grotesk war – schließlich wäre er fast gestorben. Sie beide wären fast gestorben. Aber das war um die Mitte der fünfziger Jahre gewesen, und jetzt war er in der Mitte der fünfziger Jahre – und das war der entscheidende Unterschied.
    Er war aus dem Büro gekommen, und die Sonne war in einem Los Angeles-Schleier aus trüben Purpurtönen und rauchigem Gelb untergegangen – damals, bevor der Smog von Los Angeles richtig dick wurde. Er hatte auf dem Sunset Boulevard gestanden und ein Plakat betrachtet, das eine neue Platte von Peggy Lee ankündigte, als er eine Kälte in seinem Kopf spürte. Es war gewesen, als wäre irgendwo in seinem Unterbewusstsein eine Quelle entsprungen, der etwas Fremdes, ganz Eigenartiges entströmte, das war wie – wie …
    (wie Sperma)
    … ja, genau wusste er nicht, wie es gewesen war. Er wusste nur, dass es rasch warm geworden war, erkennbar geworden war, und er hatte gerade noch Zeit zu begreifen, dass er es war, Orris, und dann hatte sich alles umgekehrt wie eine Geheimtür auf ihrem Schwenkmechanismus – ein Bücherregal auf der einen Seite, eine Chippendale-Kommode auf der anderen, und beide vollkommen auf das Ambiente des Raums abgestimmt –, und es war Orris gewesen, der am Steuer eines rundnasigen 1952er Ford saß, Orris, der den braunen Zweireiher und die John Penske-Krawatte trug, Orris, der sich zwischen die Beine fasste, nicht weil er Schmerzen hatte, sondern mit leicht angewiderter Neugier - Orris, der natürlich nie Unterhosen getragen hatte.
    Es hatte einen Augenblick gegeben, erinnerte er sich, in dem der Ford beinahe auf dem Gehsteig gelandet wäre, und dann hatte Morgan Sloat – jetzt weitgehend der untergeordnete Geist – diesen Teil der Operation übernommen, und Orris brauchte sich um nichts zu kümmern, konnte alles bestaunen, fast aus dem Häuschen vor Begeisterung. Und das, was von Morgan Sloat übrig geblieben war, war gleichfalls begeistert; er war begeistert gewesen wie ein Mann, der einen Freund zum ersten Mal durch sein neues Haus führt und feststellt, dass es dem Freund ebenso gut gefällt wie ihm selbst.
    Orris hatte den Wagen in ein Fat Boy Drive-in gelenkt, und nach einigen Schwierigkeiten mit Morgans unvertrautem Papiergeld hatte er einen Hamburger mit Pommes frites und einen Schokoladen-Thick-shake bestellt, wobei die Worte mühelos aus seinem Mund kamen. Orris’ erster Bissen in den Hamburger war skeptisch gewesen – und dann hatte er den Rest ebenso gierig hinuntergeschlungen wie Wolf seinen ersten Whopper. Er hatte die Pommes frites mit einer Hand in den Mund gestopft und gleichzeitig mit der anderen am Radio gedreht, bis er eine reizvolle

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