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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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und das nicht nur, weil Richard Gewicht verloren hatte. Jack hatte Bierfässer transportiert, Kartons geschleppt, Äpfel gepflückt. Er hatte etliche Zeit damit verbracht, auf Sunlight Gardeners Hinterem Feld Steine aufzuklauben, bekomme ich ein Halleluja? All das hatte ihn zäh gemacht. Aber die Zähigkeit reichte tiefer in sein innerstes Wesen hinab, als etwas so Simples und Seelenloses wie körperliche Arbeit erreichen konnte. Es war auch nicht nur eine Folge des Hin- und Herflippens zwischen zwei Welten oder der Tatsache, dass die andere Welt – so atemberaubend sie sein konnte – ihn abgerieben hatte wie nasse Farbe. Jack war sich vage bewusst, dass er mehr versucht hatte, als nur seiner Mutter das Leben zu retten; das er von Anfang an versucht hatte, etwas Größeres zu bewerkstelligen. Er hatte versucht, ein gutes Werk zu tun, und ihm war gleichermaßen vage bewusst, dass ein derart verrücktes Unterfangen immer Zähigkeit erzeugte.
    Er fiel tatsächlich in Laufschritt.
    »Wenn du mich seekrank machst«, sagte Richard mit schwacher Stimme, die im Rhythmus von Jacks Schritten schwankte, »spuck ich dir auf den Kopf.«
    »Ich wusste doch, dass ich mich auf dich verlassen kann, Richieboy«, keuchte Jack lächelnd.
    »Ich komme mir überaus albern vor hier oben. Wie ein menschlicher Hüpfstock.«
    »So siehst du wahrscheinlich auch aus, Kumpel.«
    »Nenn mich – nicht Kumpel«, flüsterte Richard, und Jacks Lächeln wurde breiter. O Richard, du Bastard, mögest du ewig leben.
     
    4
     
    »Ich kannte diesen Mann«, flüsterte Richard über Jacks Kopf.
    Jack erschrak, als hätte man ihn aus dem Schlaf gerissen. Er hatte Richard zehn Minuten zuvor auf den Rücken genommen, sie hatten weitere zwei Kilometer hinter sich gebracht, und nach wie vor waren keinerlei Anzeichen irgendeiner Zivilisation zu entdecken. Nur die Schienen und der Salzgeruch in der Luft.
    Die Schienen, dachte Jack. Führen sie zu dem Ort, von dem ich glaube, dass sie zu ihm hinführen?
    »Welchen Mann?«
    »Den Mann mit der Peitsche und der Maschinenpistole. Ich kenne ihn. Er war oft bei uns.«
    »Wann?« keuchte Jack.
    »Vor langer Zeit. Als ich noch ganz klein war.« Dann setzte Richard widerstrebend hinzu: »Damals, als ich diesen seltsamen Traum im Kleiderschrank hatte.« Er hielt inne. »Aber es war wohl kein Traum, oder?«
    »Nein, ich glaube nicht.«
    »Ja. War der Mann mit der Peitsche Reuels Vater?«
    »Was meinst du?«
    »Er war es«, sagte Richard finster. »Ganz offensichtlich.«
    Jack blieb stehen.
    »Richard, wohin führen diese Schienen?«
    »Du weißt, wo sie hinführen«, sagte Richard mit seltsam leerer Gelassenheit.
    »Ja – ich glaube, ich weiß es. Aber ich möchte es von dir hören.« Jack hielt inne. »Ich glaube, ich muss es von dir hören. Wo führen sie hin?«
    »Sie führen zu einem Ort, der Point Venuti heißt«, sagte Richard, und es klang, als wäre er wieder den Tränen nahe. »Dort gibt es ein großes Hotel. Ich weiß nicht, ob das der Ort ist, den du suchst, aber ich nehme es an.«
    »Ich auch«, sagte Jack. Er setzte sich wieder in Bewegung, Richards Beine unter den Armen, langsam stärker werdende Schmerzen im Rücken, und folgte den Schienen, die ihn an den Ort bringen würden, an dem es etwas gab, das seiner Mutter das Leben retten konnte.
     
    5
     
    Während sie dahinwanderten, redete Richard. Er kam nicht gleich auf die Rolle, die sein Vater in dieser verrückten Geschichte spielte, kreiste sie aber ganz allmählich ein.
    »Ich kenne diesen Mann von früher«, sagte Richard. »Dessen bin ich mir ziemlich sicher. Er kam in unser Haus. Immer durch die Hintertür. Er läutete nicht und klopfte auch nicht an. Irgendwie kratzte er an der Tür. Das ging mir immer durch und durch. Jagte mir so viel Angst ein, dass ich dachte, ich würde mir in die Hose machen. Er war groß – sicher, einem Kind kommen alle Erwachsenen groß vor, aber dieser Mann war wirklich groß – und er hatte weiße Haare. Meist trug er eine dunkle Brille. Manchmal auch so eine Sonnenbrille mit spiegelnden Gläsern. Als ich die Geschichte über ihn im Sunday Report sah, wusste ich, dass ich ihn irgendwo schon einmal gesehen hatte. An dem Abend, an dem die Sendung lief, war mein Vater oben und erledigte irgendwelchen Papierkram. Ich saß vor dem Fernseher, und als mein Vater hereinkam und sah, was lief, ließ er beinahe den Drink fallen, den er in der Hand hielt. Dann schaltete er auf eine andere Station um, die eine Wiederholung von

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