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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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Vater und mein Vater das letzte Mal zusammen auf die Jagd gingen?« fragte Jack eindringlich.
    »Jack, ich war vier Jahre alt …«
    »Nein, du warst sechs. Du warst vier, als er das erste Mal auftauchte, du warst sechs, als mein Vater in Utah getötet wurde. Und du vergisst nicht viel, Richard. Tauchte er auf, bevor mein Vater starb?«
    »Das war die Zeit, in der er eine Woche lang fast jeden Abend kam«, sagte Richard mit kaum hörbarer Stimme. »Unmittelbar vor diesem letzten Jagdausflug.«
    Obwohl er Richard daraus keinen Vorwurf machen konnte, war Jack nicht imstande, seine Bitterkeit zurückzuhalten. »Mein Vater kommt bei einem Jagdunfall in Utah ums Leben, Onkel Tommy wird in Los Angeles überfahren. Die Todesrate unter den Freunden deines Vaters ist verdammt hoch, Richard.«
    »Jack …« setzte Richard mit unglücklicher, zitternder Stimme an.
    »Natürlich ist das alles Wasser unter der Brücke oder verschüttete Milch oder was es sonst noch an passenden Klischees gibt«, sagte Jack. »Aber als ich in deiner Schule auftauchte, Richard, hast du mich für verrückt gehalten.«
    »Jack, du verstehst nicht …«
    »Nein, vermutlich nicht. Ich war müde, und du hast mich bei dir schlafen lassen. Gut. Ich war hungrig, und du hast mir etwas zu essen gebracht. Wunderbar. Aber was ich am meisten brauchte, war, dass du mir glaubtest. Ich wusste, dass das zu viel verlangt war, aber zum Henker! Du kanntest den Kerl, von dem ich redete! Du wusstest, dass er schon früher im Leben deines Vaters eine Rolle gespielt hatte! Aber nein – du hast einfach so etwas gesagt wie ›Der gute alte Jack hat draußen auf Seabrook Island ein bisschen zu lange in der Sonne gelegen und blah-blah-blah!‹ Jesus, Richard, ich habe geglaubt, dazu wären wir zu gute Freunde.«
    »Du verstehst immer noch nicht.«
    »Was? Dass du dich zu sehr vor Seabrook Island-Kram fürchtetest, um mir ein bisschen zu glauben?« Jacks Stimme bebte vor Entrüstung.
    »Nein. Ich fürchtete mich vor etwas viel Schlimmerem.«
    »Ach?« Jack blieb stehen und sah Richard mitleidslos in das bleiche, unglückliche Gesicht. »Was könnte es für Richard den Vernünftigen Schlimmeres geben?«
    »Ich fürchtete«, sagte Richard mit völlig gelassener Stimme, »ich fürchtete, wenn ich mehr über diese Geheimnisse erführe – über diesen Mann Osmond oder über das, was damals in dem Schrank war –, dann würde ich nicht mehr imstande sein, meinen Vater zu lieben. Und ich hatte recht.«
    Richard bedeckte das Gesicht mit seinen dünnen, schmutzigen Fingern und begann zu weinen.
     
    6
     
    Jack stand da, sah zu, wie Richard weinte und machte sich bittere Vorwürfe. Was immer Morgan Sloat sein mochte – er war immer noch Richard Sloats Vater, Morgans Geist lauerte in Richards Händen und in Richards Gesicht. Hatte er das vergessen? Nein – aber einen Augenblick lang hatte seine bittere Enttäuschung über Richard alles andere überdeckt. Und seine wachsende Nervosität hatte gleichfalls eine Rolle gespielt. Der Talisman war jetzt nahe, sehr nahe, und er spürte es in seinen Nervenenden wie ein Pferd, das Wasser in der Wüste riecht oder einen fernen Grasbrand auf der Prärie.
    Ja, und dieser Bursche hier ist der beste Freund, den du hast, Jacko – also spinn ein bisschen, wenn es unbedingt sein muss, aber trample nicht auf Richard herum. Der Junge ist krank, falls du es noch nicht bemerkt haben solltest.
    Er griff nach Richard. Richard versuchte, ihn fortzustoßen. Jack ließ es nicht zu. Er schlang die Arme um Richard, und dann standen die beiden eine ganze Weile mitten auf dem einsamen Bahnkörper. Richards Kopf ruhte an Jacks Schulter.
    »Hör zu«, sagte Jack verlegen, »versuch, dir nicht allzu viele Gedanken zu machen über – du weißt schon – das alles … Noch nicht, Richard. Versuch einfach, dich von der Strömung tragen zu lassen.« Gott, das hörte sich wirklich albern an. Es war ungefähr dasselbe, wie wenn man jemandem sagte, er hätte Krebs, aber er brauchte sich keine Sorgen zu machen, denn gleich würde der Krieg der Sterne in den Videorecorder eingelegt, und der würde ihn aufheitern.
    »Okay«, sagte Richard. Er löste sich aus Jacks Armen. Die Tränen hatten auf seinem schmutzigen Gesicht saubere Rinnen ausgewaschen. Er fuhr sich mit einem Arm über die Augen und versuchte zu lächeln. »Alles wird gut, alles wird gut …«
    »Und alles und jedes wird gut«, fiel Jack ein – sie beendeten den Spruch gemeinsam, dann lachten sie gemeinsam, und

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