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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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sondern seinen Verstand angriff. Daran war nicht nur die verstörende Reise in der Region schuld – damit hatte er sich allem Anschein nach abgefunden. Doch jetzt wusste er noch etwas anderes. Es handelte sich nicht um eine Realität, die in völligem Gegensatz zu all seinen sorgsam entwickelten Vorstellungen stand; auch damit würde er sich abfinden können, wenn man ihm Zeit genug ließ. Aber die Erkenntnis, dass der eigene Vater einer von den Männern mit den schwarzen Hüten ist, konnte einem kaum die erfreulichsten Augenblicke seines Lebens bescheren.
    »Okay«, sagte er und versuchte, seiner Stimme einen freudigen Klang zu geben – er empfand tatsächlich eine gewisse Freude. Er konnte sich gut vorstellen, dass selbst ein an Krebs sterbendes Kind eine gewisse Freunde empfinden würde, wenn es einem Monster wie Reuel entkommen war. »Also auf, marsch, marsch, Richieboy. Ich will dich ja nicht strafen, aber wir haben noch Meilen vor uns, bevor wir schlafen, und du bist noch immer eins von den blödesten Schafen.«
    Richard stöhnte. »Wer dir eingeredet hat, du hättest Sinn für Humor, sollte erschossen werden, Kumpel.«
    »Bitez mon crank, mon ami.«
    »Wohin gehen wir?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Jack, »aber es muss irgendwo in dieser Gegend sein. Ich spüre es wie einen Angelhaken in meinem Kopf.«
    »Point Venuti?«
    Jack drehte den Kopf und sah Richard lange an. In Richards erschöpften Augen war nichts zu lesen.
    »Warum hast du das gefragt, Kumpel?«
    »Wollen wir dorthin?«
    Jack zuckte die Achseln. Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
    Sie wanderten langsam über den verunkrauteten Exerzierplatz, und Richard wechselte das Thema. »War das alles wirklich?« Sie näherten sich dem rostigen, zweiflügligen Tor. Über dem Grün tat sich eine Gasse aus blaßblauem Himmel auf. »War irgendetwas davon wirklich?«
    »Wir haben ein paar Tage auf einer Elektrolokomotive verbracht, die in der Stunde vierzig, maximal fünfzig Kilometer fuhr«, sagte Jack, »und irgendwie sind wir damit von Springfield in Illinois bis in den Norden von Kalifornien gekommen. Und jetzt sag du mir, ob das wirklich ist.«
    »Ja – ja, aber …«
    Jack streckte die Arme aus. Sein rechtes Handgelenk war mit roten Striemen bedeckt, die juckten und schmerzten.
    »Bisse«, sagte Jack. »Von den Würmern. Den Würmern aus Reuel Gardeners Kopf.«
    Richard wandte sich ab und erbrach sich geräuschvoll.
    Jack hielt ihn; hätte er es nicht getan, wäre Richard vermutlich zusammengesackt. Er war entsetzt, wie dünn Richard geworden war, wie heiß sich sein Fleisch durch das modische Hemd hindurch anfühlte.
    »Tut mir leid, dass ich das gesagt habe«, sagte er, als es Richard wieder besser zu gehen schien. »Es war ziemlich roh.«
    »Ja, das war es. Aber vielleicht ist es das einzige, das mich – du weißt schon …«
    »Das dich überzeugt?«
    »Ja. Kann sein.« Richard sah ihn mit seinen nackten, verwundeten Augen an. Seine ganze Stirn war jetzt mit Pickeln bedeckt. Offene Geschwüre umgaben seinen Mund. »Jack, ich muss dich etwas fragen, und ich möchte, dass du mir ehrlich antwortest – unumwunden. Ich muss dich fragen …«
    Oh, ich weiß recht gut, was du mich fragen willst, Richieboy.
    »In ein paar Minuten«, sagte Jack. »In ein paar Minuten kommen wir zu allen Fragen und so vielen Antworten, wie ich dir geben kann. Aber erst haben wir noch etwas zu erledigen.«
    »Was zu erledigen?«
    Anstatt ihm zu antworten, ging Jack zu dem kleinen Zug. Er blieb einen Augenblick davor stehen, betrachtete ihn, die gedrungene Lokomotive, der leere geschlossene, der offene Wagen. War es ihm irgendwie gelungen, das ganze Ding mitzunehmen, als er nach Kalifornien flippte? Er glaubte es nicht. Schon das Flippen mit Wolf war ein Kraftakt gewesen, das Flippen mit Richard vom Campus von Thayer aus hatte ihm beinahe den Arm aus dem Gelenk gerissen, und in beiden Fällen hatte es einer bewussten Willensanstrengung bedurft. Soweit er sich erinnern konnte, hatte er überhaupt nicht an den Zug gedacht, als er flippte – nur daran, dass er Richard aus dem paramilitärischen Trainingslager der Wölfe fortbringen musste, bevor er seinen Vater zu Gesicht bekam. Bisher hatte alles irgendwie die Form verändert, wenn er von einer Welt in die andere überwechselte – der Akt des Überwechseins schien einen Akt der Verwandlung zu fordern. Aus einem Hemd konnte ein Wams werden, aus Jeans wollene Hosen, aus Geld gegliederte Stäbchen. Aber dieser Zug sah hier

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