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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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Jack.
    »Einige von ihnen – sehr viele von ihnen – sahen aus wie die großen, haarigen Geschöpfe in der anderen Welt«, sagte Richard so leise, dass Jack sich anstrengen musste, um ihn zu verstehen. »Wie Wölfe. Ich meine, sie sahen ein bisschen aus wie normale Menschen, aber nicht sehr. Sie wirkten – ungeschliffen. Verstehst du?«
    Jack nickte. Er verstand.
    »Ich weiß noch, dass ich mich ein wenig davor fürchtete, ihnen in die Augen zu sehen. Hin und wieder blitzte es in ihren Augen ganz eigenartig auf – fast so, als stünde ihr Gehirn in Flammen. Einige von den anderen …« Ein Licht der Erkenntnis dämmerte in Richards Augen auf. »Einige von den anderen sahen aus wie der falsche Basketballtrainer, von dem ich dir erzählte. Der eine Lederjacke trug und rauchte.«
    »Wie weit ist es bis Point Venuti, Richard?«
    »Genau weiß ich es nicht. Aber wir brauchten nur ein paar Stunden, und der Zug fuhr nicht sehr schnell. Vielleicht im Laufschrittempo, viel schneller bestimmt nicht. Von Camp Readiness dürften es nicht viel mehr als dreißig Kilometer sein. Wahrscheinlich sogar etwas weniger.«
    »Dann sind wir vielleicht noch fünfundzwanzig Kilometer davon entfernt. Von …«
    (vom Talisman)
    »So ist es.«
    Jack blickte auf, als sich der Tag verdunkelte. Wie um zu beweisen, dass die Natur nicht unbedingt auf ihrer Seite stand, verschwand die Sonne hinter einer dicken Wolke. Die Temperatur schien um einige Grade zu sinken, und der Tag hatte plötzlich etwas Bedrückendes. Der Ziegenmelker verstummte.
     
    9
     
    Richard sah das Schild zuerst – ein weißgekalktes Stück Holz mit schwarzer Aufschrift. Es stand links neben den Schienen, und sein Pfosten war von Efeu überwuchert, als befände er sich schon seit sehr langer Zeit an dieser Stelle. Die Aufschrift jedoch war neuesten Datums. Sie lautete: GUTE VÖGEL KÖNNEN FLIEGEN. SCHLECHTE JUNGEN MÜSSEN STERBEN. DIES IST EURE LETZTE CHANCE: KEHRT UM.
    »Du kannst umkehren, Richie«, sagte Jack ruhig. »Von mir aus jedenfalls. Aber sie werden dir nichts tun. Nichts von alledem ist deine Sache.«
    »Vielleicht doch«, sagte Richard.
    »Ich habe dich hineingezerrt.«
    »Nein«, sagte Richard. »Mein Vater hat mich hineingezerrt. Oder das Schicksal hat mich hineingezerrt. Oder Gott. Oder Jason. Wer immer es war, ich bleibe bei dir.«
    »Also gut«, sagte Jack. »Gehen wir weiter.«
    Als sie das Schild passierten, holte Jack zu einem passablen Kung-Fu-Tritt aus und stürzte den Pfosten um.
    »Gut gemacht, Kumpel«, sagte Richard und lächelte ein wenig.
    »Danke. Aber nenn mich nicht Kumpel.«
     
    10
     
    Obwohl Richard wieder sehr elend und erschöpft aussah, redete er die ganze nächste Stunde, während sie auf den Schienen entlang dem ständig stärker werdenden Geruch des Pazifischen Ozeans entgegenwanderten. Er ließ einer Flut von Erinnerungen ihren Lauf, die er über Jahre hinweg in sich verschlossen hatte. Obwohl er es sich nicht anmerken ließ, war Jack fassungslos vor Erstaunen – und erfüllt von einem tiefen, schmerzlichen Mitleid für das einsame Kind, das sich nach jedem noch so geringen Fetzen der Zuneigung seines Vaters sehnte, und das ihm Richard jetzt, absichtlich oder nicht, vor Augen führte.
    Er betrachtete Richards Blässe, die Flecken auf seinen Wangen, seiner Stirn und um seinen Mund herum; lauschte dieser scheuen, fast flüsternden Stimme, die dennoch nicht stockte oder versagte, nachdem sich nun endlich die Gelegenheit bot, alles zu erzählen; und er war von neuem froh darüber, dass Morgan Sloat nicht sein Vater war.
    Richard erzählte, dass er sich auf diesem Abschnitt der Strecke an viele Landmarken erinnerte. An einer Stelle sahen sie über den Bäumen das Dach einer Scheune mit einer verblichenen Chesterfield-Reklame.
    »›Zwanzig gute Tabake ergeben zwanzig wundervolle Zigaretten«, sagte Richard lächelnd. »Aber damals war die ganze Scheune zu sehen.«
    Er wies Jack auf eine große Kiefer mit doppelter Krone hin, und fünfzehn Minuten später erzählte er Jack: »An der anderen Seite des Hügels dort drüben lag früher ein Felsbrocken, der aussah wie ein Frosch. Ich bin gespannt, ob er noch da ist.«
    Er war noch da, und Jack fand, dass er tatsächlich einem Frosch ähnelte. Ein wenig. Wenn man viel Phantasie hatte. Und die hatte man vielleicht, wenn man drei war. Oder vier. Oder sieben. Oder wie alt Richard damals gewesen sein mochte.
    Richard hatte den Zug geliebt und Camp Readiness interessant gefunden – mit den

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