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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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ist, als steckte mein Bein in irgendeiner blöden Falle, hatte Richard gesagt, und Jack glaubte, das recht gut zu verstehen – aber er verstand es nicht so tief wie Richard. Richard verstand so viel, dass er nicht sicher war, ob er es ertragen konnte. Ein Stück von Richards Kindheit war aus ihm herausgebrannt, von innen nach außen gewendet worden. Die Bahnlinie und die tote Station mit ihren glaslos starrenden Fenstern mussten Richard wie grauenhafte Parodien vorgekommen sein – Brocken einer Vergangenheit, die im Kielwasser dessen zu Bruch gingen, was er über seinen Vater herausgefunden hatte oder sich eingestehen musste. Richards ganzes Leben hatte begonnen, sich wie das von Jack dem Muster der Region anzupassen, aber Richard hatte sich auf diese Verwandlung viel weniger vorbereiten können.
     
    2
     
    Jack hätte schwören können, dass alles, was er Richard über den Talisman erzählt hatte, der Wahrheit entsprach – der Talisman wusste, dass sie kamen. Jack hatte es zum ersten Mal gespürt, als er die Reklametafel mit dem Bild seiner Mutter sah; jetzt war das Gefühl zwingend und machtvoll. Es war, als wäre einige Kilometer entfernt ein großes Tier aufgewacht und sein Schnurren ließe die Erde vibrieren – oder als wären in einem hundertstöckigen Gebäude gleich hinter dem Horizont alle Lampen auf einmal eingeschaltet worden und verströmten eine Helligkeit, die die Sterne verblassen ließ – oder als hätte jemand den stärksten Magneten der Welt aktiviert, der jetzt an Jacks Gürtelschließe zog, an den Münzen in seiner Tasche und den Füllungen in seinen Zähnen, und der nicht nachlassen würde, bis er ihn an sich gezogen hatte. Das Schnurren des großen Tieres, die plötzliche, strahlende Beleuchtung, das Ziehen des Magneten – all das widerhallte in Jacks Brust. Irgendetwas dort draußen, irgendetwas in der Richtung von Point Venuti verlangte nach Jack Sawyer, und Jack wusste nur, dass der Gegenstand, der so inständig nach ihm rief, groß war. Groß. Ein kleiner Gegenstand konnte eine solche Kraft nicht haben. Er hatte die Größe eines Elefanten, einer Stadt.
    Und er fragte sich, ob er imstande sein würde, etwas so Monumentales zu bewegen. Der Talisman war in ein magisches, unheildrohendes altes Hotel eingekerkert; vermutlich war er nicht nur dort hingebracht worden, um ihn vor bösen Händen zu schützen, sondern auch deshalb, weil es für jedermann – mit welchen Absichten auch immer – schwer war, ihn zu bewegen. Vielleicht, überlegte Jack, war Jason der einzige, der dazu imstande war – der den Talisman bewegen konnte, ohne sich oder ihm Schaden zuzufügen. Er spürte die Kraft und Dringlichkeit, mit der der Talisman nach ihm rief, und konnte nur hoffen, dass er vor ihm nicht schwach werden würde.
    »›Du wirst es verstehen, Rich‹«, sagte Richard plötzlich. »Das hat mein Vater gesagt. Er hat gesagt, ich würde es verstehen. ›Du wirst es verstehen, Rich.‹
    »Ja«, sagte Jack und warf ihm einen besorgten Blick zu. »Wie fühlst du dich, Richard?«
    Zu den Geschwüren um seinen Mund und den Pickeln auf Stirn und Wangen war jetzt eine Kollektion bösartig aussehender roter Quaddeln gekommen. Es sah aus, als wäre es einem Insektenschwarm gelungen, sich unter die Oberfläche seiner protestierenden Haut zu graben. Einen Augenblick stand Jack das Bild von Richard Sloat vor Augen, wie er an dem Morgen ausgesehen hatte, als er durch sein Fenster in Nelson House, Thayer School, einstieg: Richard Sloat mit der Brille auf der Nase und dem säuberlich in den Hosenbund gesteckten Pullover. Würde es diesen aufreizend korrekten, durch nichts aus der Fassung zu bringenden Jungen jemals wieder geben?
    »Ich kann immer noch laufen«, sagte Richard. »Aber war es das, was er meinte? Ist es das, was ich verstehen sollte?«
    »Du hast etwas Neues im Gesicht«, sagte Jack. »Willst du ein bisschen ausruhen?«
    »Nein«, sagte Richard, und seine Stimme klang, als käme sie vom Grund eines schlammgefüllten Fasses. »Ich spüre den Ausschlag. Er juckt. Ich glaube, mein Rücken ist auch voll davon.«
    »Lass mich nachsehen«, sagte Jack. Richard blieb mitten auf der Straße stehen, gehorsam wie ein Hund. Er schloss die Augen und atmete durch den Mund. Die roten Quaddeln leuchteten auf seiner Stirn und seinen Wangen. Jack trat hinter ihn, schob sein Jackett hoch und hob das Rückenteil seines schmutzigen, durchgeknöpften blauen Hemdes. Die Quaddeln waren kleiner und sahen nicht so bösartig aus;

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