Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
Vom Netzwerk:
sie reichten von Richards dünnen Schulterblättern bis in sein Kreuz, nicht größer als Zecken.
    Richard gab einen großen, mutlosen Seufzer von sich.
    »Da sind Quaddeln, aber es ist nicht so schlimm«, sagte Jack.
    »Danke«, sagte Richard. Er atmete tief ein und hob dann den Kopf. Der graue Himmel über ihnen schien schwer genug, um auf die Erde herabzustürzen. Weit unten am Fuße des rauen Abhangs brandete das Meer gegen die Felsen. »Nur noch ein paar Kilometer«, sagte Richard. »Die schaffe ich.«
    »Ich nehme dich auf den Rücken, wenn es sein muss«, sagte Jack und verriet damit unwillkürlich seine Überzeugung, dass Richard bald wieder getragen werden musste.
    Richard schüttelte den Kopf und unternahm den kraftlosen Versuch, sein Hemd wieder in die Hose zu stopfen. »Manchmal glaube ich – manchmal glaube ich, ich kann nicht …«
    »Wir müssen in dieses Hotel, Richard«, sagte Jack, hakte Richard unter und zwang ihn auf diese Weise zum Weitergehen. »Du und ich. Zusammen. Ich habe nicht die blasseste Ahnung, was passieren wird, wenn wir drinnen sind, aber du und ich, wir gehen beide hinein. Und lassen uns von niemandem daran hindern. Ist das klar?«
    Richard bedachte ihn mit einem halb ängstlichen, halb dankbaren Blick. Jetzt entdeckte Jack die unregelmäßigen Umrisse weiterer Quaddeln auf Richards Wangen. Wieder war er sich einer starken Kraft bewusst, die ihn vorantrieb, wie er Richard vorangetrieben hatte.
    »Du meinst meinen Vater«, sagte Richard. Er blinzelte, und Jack glaubte, dass er versuchte, die Tränen zurückzuhalten – die Erschöpfung hatte ihn empfindlicher werden lassen.
    »Ich meine alles«, sagte Jack, nicht ganz der Wahrheit entsprechend. »Lass uns weitergehen, Richie.«
    »Aber was soll ich verstehen? Ich begreife einfach nicht …« Richard sah sich um, blinzelte mit seinen ungeschützten Augen. Der größte Teil der Welt, erinnerte sich Jack, gab für ihn nur ein verschwommenes Bild.
    »Du verstehst schon jetzt eine ganze Menge mehr, Richie«, erklärte ihm Jack.
    Dann verzerrte ein bestürzend bitteres Lächeln für einen Moment Richards Mund. Er hatte eine ganze Menge mehr verstehen müssen, als ihm lieb war, und in diesem Augenblick wünschte sich Jack, er wäre mitten in der Nacht allein aus der Thayer School fortgelaufen. Doch der Zeitpunkt, an dem er Richards Unschuld hätte bewahren können, lag weit zurück, wenn es ihn überhaupt je gegeben hatte – Richard gehörte unabdingbar zu Jacks Mission. Er spürte, wie starke Hände sein Herz erfassten: Jasons Hände, die Hände des Talismans.
    »Wir sind bald da«, sagte er, und Richard passte sich dem Rhythmus seiner Schritte an.
    »Wir werden da unten in Point Venuti meinen Dad treffen, nicht wahr?« fragte er.
    Jack sagte: »Ich passe auf dich auf, Richard. Jetzt bist du die Herde.«
    »Was?«
    »Niemand wird dir etwas zuleide tun – es sei denn, du kratzt dich selbst zu Tode.«
    Richard murmelte vor sich hin, während sie weitergingen. Seine Hände wanderten zu seinen entzündeten Schläfen und rieben darauf herum. Hin und wieder grub er die Finger in die Haare, kratzte sich wie ein Hund und grunzte, nur teilweise befriedigt.
     
    3
     
    Bald nachdem Jack Richards Hemd angehoben und die roten Quaddeln auf seinem Rücken gesehen hatte, entdeckten sie den ersten der Bäume der Region. Er wuchs an der landeinwärts gelegenen Straßenseite; das Gewirr dunkler Äste und der mit dicker, rissiger Borke bedeckte Stamm erhoben sich aus rötlichem, wächsern aussehendem Giftsumach. Astlöcher in der Borke, Mündern oder Augen gleich, starrten die Jungen an. Unter der dichten Matte des Giftsumachs versetzte ein Rascheln unbefriedigter Wurzeln die wächsernen Blätter in Bewegung, als führe der Wind durch sie hindurch. Jack sagte: »Gehen wir auf die andere Straßenseite hinüber«, und hoffte, dass Richard den Baum nicht bemerkt hatte. Er hörte, wie sich die dicken, gummiartigen Wurzeln ihren Weg durch den Giftsumach bahnten.
    Ist das ein JUNGE? Kann das ein JUNGE sein? Vielleicht ein ganz BESONDERER Junge?
    Richards Hände flogen von seinen Hüften zu seinen Schultern, seinen Schläfen, seinem Kopf. Die zweite Welle von Quaddeln auf seinen Wangen sah aus wie das Make-up für einen Horrorfilm – er hätte in einem von Lily Cavanaughs alten Streifen ein jugendliches Monster spielen können. Auf seinen Händen hatten sich die roten Quaddeln zu breiten roten Striemen vereinigt.
    »Kannst du wirklich noch laufen, Richard?«

Weitere Kostenlose Bücher