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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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Standpunkt aus erschien die Straße erst wieder, wo sie am entgegengesetzten Ende einen Abhang hinauf und weiter nach Süden führte, nach San Francisco. Er sah nur die treppenförmig abfallenden Dächer der Lagerschuppen, die eingezäunten Parkplätze und zur Rechten das winterliche Grau des Wassers. Auf dem Teil der Straße, den er einsehen konnte, bewegte sich niemand; niemand erschien in der Reihe kleiner Fenster an der Rückfront der nächstgelegenen Fabrik. Staub wirbelte über die leeren Parkplätze. Point Venuti wirkte verlassen, aber Jack wusste, dass dieser Eindruck täuschte. Morgan Sloat und seine Kohorten – soweit sie das überraschende Eintreffen des Zuges in der Region überlebt hatten – würden irgendwo auf die Ankunft von Travelling Jack und Richard warten. Der Talisman rief nach Jack, drängte ihn, und er sagte: »Das also ist es«, und setzte sich wieder in Bewegung.
    Gleich darauf entdeckte er zwei neue Facetten von Point Venuti. Als erstes gerieten etwa zwanzig Zentimeter vom Heck einer Cadillac-Limousine in sein Blickfeld. Jack sah den schwarzen Lack, die glänzende Stoßstange, einen Teil des rechten Rücklichts. Wenn es nach ihm ging, hätte der abtrünnige Wolf hinter dem Steuer zu den Opfern von Camp Readiness gehören müssen. Dann blickte er wieder zum Ozean hinüber. Eine langsame Bewegung über den Dächern der Lagerschuppen lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. KOMM HER, rief der Talisman auf seine drängende, magnetische Weise. Irgendwie schien sich Point Venuti zusammenzuballen wie eine Hand zur Faust. Hoch über den Dächern drehte sich eine dunkle, farblose Wetterfahne von der Form eines Wolfskopfes ziellos hin und her, keinem Wind gehorchend.
    Als Jack sah, wie sich die Wetterfahne bewegte – von links nach rechts, von rechts nach links – und wie sie dann einen vollständigen Kreis beschrieb, wusste er, dass er seinen ersten Blick auf das schwarze Hotel geworfen hatte. Von den Dächern der Lagerschuppen, von der Straße vor ihm, von der ganzen unsichtbaren Stadt ging eine unverkennbare Feindseligkeit aus, greifbar wie ein Schlag ins Gesicht. Hier sickerte die Region in Point Venuti ein; hier war die Realität ganz dünn geschliffen. Der Wolfskopf drehte sich ziellos in der Luft, und der Talisman zerrte an Jack. KOMM HER KOMM HER KOMM GLEICH KOMM GLEICH GLEICH … Jack begriff, dass ihn der Talisman nicht nur auf seine unvorstellbare Weise immer stärker anzog, sondern dass er auch sang. Ohne Worte, ohne Melodie, aber es war Gesang, das Steigen und Fallen einer Walmelodie, unhörbar für jedermann außer ihm.
    Der Talisman wusste, dass er gerade die Wetterfahne des Hotels gesehen hatte.
    Vielleicht war Point Venuti der verderbteste und gefährlichste Ort in ganz Nord- und Südamerika, dachte Jack, plötzlich nur noch halb so mutig, aber er konnte ihn nicht am Betreten des Hotels hindern. Jetzt war ihm, als hätte er einen ganzen Monat lang nichts getan, als sich auszuruhen und Sport zu treiben. Er drehte sich zu Richard um und versuchte, sich seine Bestürzung über den Zustand seines Freundes nicht anmerken zu lassen. Auch Richard konnte ihn nicht aufhalten – wenn es sein musste, würde er Richard regelrecht durch die Wände des verdammten Hotels schieben. Er sah, wie sich Richard gepeinigt mit den Fingernägeln durchs Haar und dann über die Quaddeln auf seinen Schläfen und Wangen fuhr.
    »Wir schaffen es, Richard«, sagte er. »Ich weiß, dass wir es schaffen, einerlei, wie viele Knüppel sie uns zwischen die Beine werfen. Wir schaffen es.«
    »Unsere Probleme werden mit uns Probleme haben«, sagte Richard; dass dies ein Zitat aus einem Dr. Seuss-Buch war, war ihm vermutlich nicht bewusst. »Ich weiß nicht, ob ich durchhalten kann. Das ist die reine Wahrheit. Ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten.« Er warf Jack einen Blick zu, aus dem unverhüllte Qual sprach. »Was ist mit mir los, Jack?«
    »Ich weiß es nicht, aber ich weiß, wie dem ein Ende zu machen ist.« Und hoffte, dass es der Wahrheit entsprach.
    »Ist es mein Vater, der mir das antut?« fragte Richard kläglich und fuhr sich mit der Hand über das verquollene Gesicht. Dann zog er das Hemd aus der Hose und betrachtete die ineinander verfließenden Quaddeln auf seinem Bauch. Der Ausschlag begann an seiner Taille und zog sich fast bis zum Hals hoch. »Es sieht aus wie ein Virus oder etwas von der Art. Hat mein Vater mir das beschert?«
    »Ich glaube nicht, dass er es mit Absicht getan hat, Richie«,

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