Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
Vom Netzwerk:
dampfend gegen dieses Licht zu protestieren.
    Die Wolken sind auf gerissen, dachte Jack. Draußen scheint die Sonne. Und dann: Wir gehen durch die Vordertür hinaus, Richieboy. Du und ich. In voller Lebensgröße und doppelt so stolz.
    Der Gang, der an der Reiherbar vorbei in den Speisesaal führte, erinnerte ihn an die Szenenbilder in der alten Fernsehserie Twilight Zone, in der alles schief und irgendwie aus dem Lot war. Hier neigte sich der Fußboden nach links, dort nach rechts; hier glich er den Höckern eines Kamels. Er tastete sich durch das Halbdunkel, und der Talisman erhellte seinen Weg wie die größte Taschenlampe der Welt.
    Er erreichte den Speisesaal und sah Richard in die Tischdecke verwickelt auf dem Fußboden liegen. Blut sickerte aus seiner Nase. Als er näher kam, sah er, dass einige der harten roten Quaddeln aufgeplatzt waren; weiße Würmer krochen aus Richards Fleisch heraus und wanden sich träge über seine Wangen. Einer kam gerade aus Richards Nase zum Vorschein.
    Richard stieß einen schwachen, gurgelnden, jämmerlichen Schrei aus und griff danach. Es war der Schrei eines Menschen, der eines qualvollen Todes stirbt.
    Sein Hemd warf und verzerrte sich über den Würmern.
    Jack taumelte über den unebenen Fußboden auf ihn zu – und die Spinne kam aus der Dunkelheit herabgeschossen und spritzte ihr Gift blindlings in die Luft.
    »Mieser Dieb«, geiferte sie mit ihrer schrillen, monotonen Stimme. »O du mieser Dieb, bring ihn zurück, bring ihn zurück!«
    Ohne nachzudenken, hob Jack den Talisman. Er versprühte klares weißes Feuer – Regenbogenfeuer –, und die Spinne schrumpfte zusammen und wurde schwarz. Eine Sekunde später war sie nur noch ein Klumpen rauchender Kohle, der langsam in der Luft schaukelte.
    Aber er hatte keine Zeit, dieses Wunder zu bestaunen. Richard starb.
    Jack erreichte ihn, fiel neben ihm auf die Knie und befreite ihn von der Tischdecke, als wäre es ein Leichentuch.
    »Hab’s endlich geschafft, Kumpel«, flüsterte er und versuchte, die Würmer nicht zur Kenntnis zu nehmen, die aus Richards Fleisch hervorkrochen. Er hob den Talisman, dachte einen Moment nach und legte ihn dann auf Richards Stirn. Richard schrie jämmerlich auf und versuchte, sich ihm zu entwinden. Jack legte eine Hand auf Richards magere Brust und hielt ihn fest – das war nicht schwierig. Gestank stieg auf, als die Würmer unter dem Talisman verschmorten.
    Was nun? Da ist mehr, aber was?
    Er ließ den Blick durch den Raum wandern und sah die große Murmel, die er Richard in die Hand gedrückt hatte – die Murmel, die in der anderen Welt ein Zauberspiegel war. Er sah, wie sie sich in Bewegung setzte, anderthalb Meter weit rollte und dann liegen blieb. Ja, sie rollte. Sie rollte, weil sie eine Murmel war, und Murmeln sind zum Rollen geschaffen. Murmeln waren rund, und der Talisman war es auch.
    Licht brach in sein verstörtes Denken ein.
    Jack hielt Richard fest und rollte den Talisman über seinen Körper. Als er Richards Brust erreicht hatte, hörte Richard auf, sich zu wehren. Jack dachte, er wäre ohnmächtig geworden, aber ein rascher Blick sagte ihm, dass es nicht der Fall war. Richard sah ihn mit aufdämmerndem Staunen an …
    … und die Geschwüre auf seinem Gesicht waren verschwunden! Die harten roten Quaddeln verblichen!
    »Richard!« rief er und lachte, als hätte er den Verstand verloren. »He, Richard, sieh dir das an! Bwana macht juju!«
    Er rollte mit der Handfläche den Talisman langsam über Richards Bauch. Der Talisman leuchtete hell, sang ein klares, wortloses Lied von Gesundheit und Heilung. Über Richards Leisten. Jack schob Richards Beine zusammen und rollte ihn zwischen ihnen bis zu seinen Knöcheln. Der Talisman leuchtete hellblau – dunkelrot – gelb – so grün wie eine Wiese im Juni. Dann war er wieder weiß.
    »Jack«, flüsterte Richard. »Sind wir deshalb gekommen?«
    »Ja.«
    »Er ist schön«, sagte Richard. Dann zögerte er. »Darf ich ihn halten?«
    Jack überkam ein Gefühl unvermuteter Besitzgier. Einen Augenblick lang riss er den Talisman an sich. Nein! Du könntest ihn zerbrechen. Außerdem gehört er mir! Seinetwegen habe ich den Kontinent durchquert! Seinetwegen habe ich mit den Rittern gekämpft! Du bekommst ihn nicht. Er gehört mir! Mir!
    Plötzlich ging von dem Talisman in seinen Händen eine entsetzliche Kälte aus, und einen Augenblick lang – einen Augenblick, der Jack mehr ängstigte als alle Erdbeben, die es je gegeben hat oder geben wird –

Weitere Kostenlose Bücher