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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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wahrscheinlich auf den steilen, gefährlichen Stufen, die zur Haupttribüne der Thayer School hinaufführten. Jetzt war er kalt und tot, und nichts konnte ihm mehr passieren. Eine Sekunde lang empfand er grenzenlose Erleichterung.
    Dann schoss frischer Schmerz durch seinen Kopf, und er spürte, dass ihm warmes Blut über die Hände rann – beides Beweise dafür, dass Richard Llewellyn Sloat, so willkommen es ihm in diesem Augenblick auch gewesen wäre, noch nicht tot war, sondern nur eine verletzte, leidende Kreatur. Ihm war, als wäre der ganze obere Teil seines Schädels abgerissen. Er wusste nicht, wo er sich befand. Es war kalt. Sein Blick verfestigte sich lange genug, um ihn erkennen zu lassen, dass er im Schnee lag. Es war Winter geworden. Weitere Schneemassen kamen vom Himmel herab. Dann hörte er die Stimme seines Vaters, und alles kehrte zu ihm zurück.
    Richard ließ die Hand auf seinem Kopf liegen, hob aber ganz langsam das Kinn, bis er in die Richtung blicken konnte, aus der die Stimme seines Vaters kam.
    Jack Sawyer hielt den Talisman in den Händen – das war das erste, das Richard wahrnahm. Der Talisman war unbeschädigt. Er spürte, wie etwas von der Erleichterung zurückkehrte, die er empfunden hatte, als er glaubte, er wäre tot. Selbst ohne seine Brille sah Richard, dass Jack einen unbesiegten, ungebeugten Eindruck machte, der ihn tief bewegte. Jack sah aus wie – wie ein Held. Das war es. Er sah aus wie ein schmutziger, abgerissener, unvorstellbar junger Held, in fast jeder Hinsicht für die Rolle gänzlich ungeeignet, und dennoch unbestreitbar ein Held.
    Außerdem sah Richard, dass Jack jetzt nur noch Jack war. Das Außerordentliche, das Besondere – diese Eigenschaft, die ihm die Aura eines Filmstars verliehen hatte, der sich herablässt, als schäbig gekleideter Zwölfjähriger aufzutreten, war verschwunden, und das machte sein Heldentum für Richard noch beeindruckender.
    Sein Vater lächelte wölfisch. Aber das war nicht sein Vater. Sein Vater war schon vor langer Zeit ausgehöhlt worden – ausgehöhlt von seinem Neid auf Phil Sawyer, seinem unmäßigen Ehrgeiz.
    »So können wir ewig weitermachen«, sagte Jack. »Ich werde dir den Talisman niemals geben, und du kannst ihn niemals mit diesem Ding da zerstören. Gib auf.«
    Die Spitze des Schlüssels in der Hand seines Vaters bewegte sich langsam zur Seite und nach unten und war dann genau auf ihn gerichtet.
    »Zuerst werde ich Richard den Rest geben«, sagte sein Vater. »Willst du wirklich erleben, wie sich dein Freund Richard in gebratenen Speck verwandelt? Wie? Willst du das? Und natürlich hält mich nichts davon ab, diesem Mistkerl da neben ihm den gleichen Dienst zu erweisen.«
    Jack und Sloat tauschten einen kurzen Blick. Und Richard wusste, dass es seinem Vater ernst damit war. Er würde ihn töten, wenn Jack ihm den Talisman nicht auslieferte. Und dann würde er den alten schwarzen Mann, Speedy, töten.
    »Tu’s nicht«, flüsterte er mühsam. »Sag ihm, er kann dich am Arsch lecken.«
    Richard traute seinen Augen nicht, als er sah, dass Jack ihm zuzwinkerte.
    »Lass das Ding einfach fallen«, hörte er seinen Vater sagen.
    Entsetzt sah Richard, wie Jack die Handflächen nach unten neigte und den Talisman herausfallen ließ.
     
    7
     
    »Jack, nein!«
    Jack drehte sich nicht zu Richard um. Man besitzt etwas nur dann wirklich, wenn man bereit ist, darauf zu verzichten, hämmerten seine Gedanken in ihm. Man besitzt etwas nur dann wirklich, wenn man bereit ist, darauf zu verzichten, was hülfe es dem Menschen, es hülfe ihm nichts, es hülfe ihm einen Quark, und das lernt man nicht in der Schule, das lernt man auf der Straße, man lernt es von Ferd Janklow und von Wolf und von Richard, der kopfüber auf die Steine stürzt.
    Man lernte diese Dinge – oder man starb irgendwo draußen in der Welt, wo kein klares Licht leuchtete.
    »Schluss mit dem Töten«, sagte er in die schneestiebende Dunkelheit dieses Nachmittags an einem kalifornischen Strand hinein. Eigentlich hätte er völlig am Ende seiner Kräfte sein müssen – schließlich hatte er vier grauenhafte Tage hinter sich, und jetzt, an ihrem Ende, hatte er den Ball geworfen wie ein unerfahrener Linksaußen, der noch viel zu lernen hat. Hatte alles hingeworfen. Dennoch war es die sichere Stimme von Anders, die er hörte, von Anders, der mit ausgebreitetem Kilt und gebeugtem Kopf vor Jack/Jason gekniet hatte; von Anders, der gesagt hatte: Alles wird gut, alles wird gut, alles

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