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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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fallen, bevor ich dir den Kopf abreiße. Los. Lass es fallen!«
    Jack sagte. »Hau ab und treib’s mit einer Ratte!«
    Morgan Sloat öffnete den Mund, entblößte eine Reihe blutiger Zähne und schrie: »Ich werd’s mit deiner Leiche treiben!« Der Schlüssel zielte unsicher auf Jacks Kopf, schwenkte dann zur Seite. Sloats Augen glitzerten, und dann schoss seine Hand hoch, so dass der Schlüssel zum Himmel emporzeigte. Eine lange Blitzsträhne schien aus Sloats Faust hervorzuschießen, die sich nach oben hin immer mehr verbreiterte. Der Himmel wurde schwarz. Der Talisman und Morgan Sloats Gesicht leuchteten in der plötzlichen Dunkelheit – Sloats Gesicht, weil das Licht des Talismans darauffiel. Jack begriff, dass auch sein Gesicht im hellen Licht des Talismans deutlich zu sehen sein musste. Und in dem Augenblick, in dem er Sloat den Talisman entgegenstreckte und Gott weiß was versuchte – ihn dazu zu bringen, den Schlüssel fallen zu lassen, ihn wütend zu machen, ihm zu verstehen zu geben, dass er machtlos war –, musste Jack erfahren, dass Morgan Sloat noch nicht am Ende seines Lateins angekommen war. Dicke Schneeflocken fielen von dem dunklen Himmel herab. Sloat verschwand hinter dem immer dichter werdenden Vorhang aus Schnee. Jack hörte sein nasses Lachen.
     
    4
     
    Lily mühte sich aus ihrem Bett heraus und trat ans Fenster. Sie blickte hinaus auf den dezemberlich toten Strand, der nur von einer einzigen Straßenlaterne auf der Promenade erhellt wurde. Plötzlich ließ sich eine Möwe auf der äußeren Fensterbank nieder. Ein Stück Knorpel hing aus ihrem Schnabel, und in diesem Augenblick dachte sie an Sloat. Die Möwe sah aus wie Sloat.
    Zuerst fuhr Lily zurück, dann trat sie wieder ans Fenster. Sie empfand eine geradezu lächerliche Wut. Eine Möwe konnte nicht wie Sloat aussehen – das war nicht in Ordnung. Sie klopfte an das kalte Glas. Die Möwe flatterte kurz mit den Flügeln, flog aber nicht auf. Und dann hörte sie, wie von ihrem kalten Verstand ein Gedanke ausging, hörte ihn so deutlich wie aus einem Radio:
    Jack stirbt, Lily – Jack stiiiirbt …
    Die Möwe beugte ihren Kopf. Klopfte mit voller Absicht ans Glas wie Poes Rabe.
    Stiiiiirbt …
    »NEIN!« schrie Lily sie an. »HAU AB, SLOAT!« Diesmal klopfte sie nicht nur, sondern schlug mit der Faust zu und zerschmetterte das Glas. Die Möwe flatterte zurück, kreischte und stürzte beinahe ab.
    Von Lilys Hand tropfte Blut – nein, es tropfte nicht nur, es strömte. Sie hatte zwei tiefe Schnittwunden. Sie zog Glasscherben aus ihrem Handballen und wischte dann die Hand am Nachthemd ab.
    »DAMIT HAST DU WOHL NICHT GERECHNET, DU SCHEISS-VIEH!« schrie sie den Vogel an, der rastlos über dem Garten kreiste. Sie brach in Tränen aus. »Und nun lass ihn in Ruhe! Lass ihn in Ruhe! LASS MEINEN JUNGEN IN RUHE!«
    Sie war überall voll Blut. Kalte Luft strömte durch die Fensterscheibe herein, die sie zerschlagen hatte. Und dann sah sie, wie die ersten Schneeflocken vom Himmel herab und in das weiße Licht der Straßenlaterne hineinrieselten.
     
    5
     
    »Pass auf, Jacky.«
    Leise. Links von ihm.
    Jack drehte sich in diese Richtung, hielt den Talisman hoch wie einen Scheinwerfer. Er schickte einen Lichtstrahl aus, in dem fallender Schnee tanzte.
    Sonst nichts. Dunkelheit – Schnee – das Tosen des Ozeans.
    »Falsche Seite, Jacky.«
    Er fuhr nach rechts herum, seine Füße glitten über den vereisenden Schnee. Näher. Er war näher gewesen.
    Jack hob den Talisman. »Komm und hol ihn dir, Sloat.«
    »Du hast keine Chance, Jack. Ich kann ihn jederzeit nehmen, wenn ich will.«
    Hinter ihm – und noch näher. Aber als er den leuchtenden Talisman hob, war kein Sloat zu sehen. Schnee schlug ihm ins Gesicht. Er atmete ihn ein, und die Kälte brachte ihn zum Husten.
    Sloat kicherte unmittelbar vor ihm.
    Jack fuhr zurück und wäre fast über Speedy gestolpert.
    »Hallo, Jacky!«
    Eine Hand kam aus der Dunkelheit links von ihm und zog ihn am Ohr. Er drehte sich in diese Richtung, mit wild klopfendem Herzen und weit aufgerissenen Augen. Dann glitt er aus und landete auf einem Knie.
    Irgendwo neben ihm gab Richard ein gequältes Stöhnen von sich.
    Über ihm prasselte Donner durch die Dunkelheit, die Sloat irgendwie erzeugt hatte.
    »Wirf ihn mir zu!« reizte Sloat. Er tänzelte aus der stürmischen, schneegefüllten Dunkelheit heraus, schnippte mit den Fingern seiner rechten Hand, schwenkte mit der linken den Schlüssel. Seine Gesten schienen einem

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