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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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ein Mädchen gefunden, oder?« Sie musterte ihn scharf. »Nein. Kein Mädchen. Okay. Rette mir das Leben. Verschwinde.« Sie schüttelte den Kopf, und ihm war, als sähe er einen zusätzlichen Glanz in ihren Augen. »Wenn du gehen musst, dann verschwinde jetzt, Jacky. Ruf mich morgen an.«
    »Wenn ich kann.« Er stand auf.
    »Wenn du kannst. Natürlich. Entschuldige.« Sie senkte den Blick, und er bemerkte, dass ihre Augen verschwommen waren. Auf ihren Wangen brannten rote Flecke.
    Jack beugte sich nieder und küsste sie, aber sie winkte ab. Die Kellnerin starrte sie an, als wären sie Schauspieler in einem Theaterstück. Jack glaubte, dass es ihm trotz allem, was seine Mutter eben gesagt hatte, gelungen war, ihre Ungläubigkeit auf fünfzig Prozent zu reduzieren; und das hieß, dass sie nicht mehr wusste, was sie glauben sollte.
    Ihr Blick fand ihn noch einmal für einen Augenblick, und er sah wieder diesen hektischen Glanz in ihren Augen. Zorn – Tränen? »Gib auf dich acht«, sagte sie und winkte der Kellnerin.
    »Ich liebe dich«, sagte Jack.
    »Geh nie mit einem solchen Satz ab.« Jetzt lächelte sie beinahe. »Mach dich auf den Weg, Jack. Verschwinde, bevor ich begriffen habe, wie verrückt das alles ist.«
    »Bin schon fort«, sagte er, machte kehrt und verließ das Restaurant. Sein Kopf fühlte sich an, als wären alle Schädelknochen plötzlich für ihre Umhüllung aus Fleisch zu groß geworden. Der leere gelbe Sonnenschein stach ihm in die Augen. Dann hörte Jack die Tür des Arcadia Tea and Jam Shoppe ins Schloss fallen, gleich nachdem das Glöckchen geläutet hatte. Er blinzelte, überquerte die Boardwalk Avenue, ohne nach Autos Ausschau zu halten. Als er den Gehsteig auf der anderen Straßenseite erreicht hatte, fiel ihm ein, dass er noch einmal ins Hotel zurückkehren und ein paar Sachen holen musste. Als er die große Vordertür aufzog, war seine Mutter noch nicht aus dem Restaurant herausgekommen.
    Der Tagesportier trat einen Schritt zurück und starrte ihn verdrossen an. Jack spürte, dass irgendein Gefühl von dem Mann ausging, aber einen Augenblick lang war ihm nicht klar, weshalb der Portier bei seinem Anblick so heftig reagierte. Die Unterhaltung mit seiner Mutter – die viel kürzer gewesen war, als er es sich vorgestellt hatte – schien ihm Tage gedauert zu habe. Jenseits der ungeheuren Zeitspanne, die er im Tea and Jam Shoppe verbracht hatte, hatte er den Portier einen Widerling genannt. Sollte er sich entschuldigen? Er wusste nicht einmal mehr, was ihn gegen den Portier aufgebracht hatte …
    Seine Mutter war einverstanden – sie hatte ihm erlaubt, seine Reise anzutreten, und als er das Sperrfeuer der finsteren Blicke des Portiers durchquerte, begriff er endlich, warum sie es getan hatte. Er hatte den Talisman nicht erwähnt, nicht ausdrücklich; aber wenn er es getan hätte – wenn er über den irrsinnigsten Aspekt seiner Mission gesprochen hätte –, dann hätte sie auch das akzeptiert. Und wenn er gesagt hätte, er würde einen halbmeterlangen Schmetterling mitbringen und ihn im Ofen braten, dann hätte sie sich bereit erklärt, gebratenen Schmetterling zu essen. Ihr Einverständnis wäre ironisch gewesen, aber dennoch echt. Dass sie nach solchen Strohhalmen griff, zeigte unter anderem, wie tief ihre Angst saß.
    Aber sie griff auch danach, weil sie wusste, dass es keine Strohhalme, sondern Ziegelsteine waren. Sie hatte zugestimmt, weil irgendetwas in ihr über die Region Bescheid wusste.
    War sie je in der Nacht aufgewacht, weil der Name Laura DeLoessian in ihren Gedanken widerhallte?
    Oben in 407 und 408 warf er, fast ohne hinzuschauen, Kleidungsstücke in seinen Rucksack; was seine Finger in einer Schublade fanden und was nicht zu groß war, kam hinein. Hemden, Socken, ein Pullover, Unterhosen. Er rollte ein Paar bräunlicher Jeans fest zusammen und stopfte sie gleichfalls hinein; dann stellte er fest, dass der Rucksack unbequem schwer geworden war, und holte den größten Teil der Hemden und Socken wieder heraus. Auch der Pullover musste heraus. Erst in letzter Minute dachte er an seine Zahnbürste. Dann schob er die Riemen über die Schultern und spürte das Gewicht auf seinem Rücken – nicht zu schwer; mit diesen paar Pfund konnte er den ganzen Tag wandern. Dann blieb er einen Augenblick still im Wohnzimmer der Suite stehen, von dem – unvermutet heftigen – Gefühl überwältigt, dass nichts und niemand da war, von dem er sich verabschieden konnte. Seine Mutter würde

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