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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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denn die Frau in dem Bett war seine Mutter. Es war seine Mutter, und sie lag im Sterben.
    »Du hast sie gesehen«, flüsterte der Hauptmann und streckte die Arme, um Jack sicherer zu halten.
    Offenen Mundes starrte Jack seine Mutter an. Sie lag im Sterben, daran konnte er nicht mehr zweifeln; sogar ihre Haut wirkte ausgeblichen und krank, und auch ihr Haar hatte seinen Glanz und seine Farbe verloren. Die Pflegerinnen um sie herum taten geschäftig, glätteten die Laken oder arrangierten Bücher auf einem Tisch, aber gerade dieses geschäftige und zielstrebige Gebaren verriet, dass sie im Grunde keine Ahnung hatten, wie sie ihrer Patientin helfen sollten. Die Pflegerinnen wussten, dass es für eine solche Patientin keine Hilfe gab. Wenn sie den Tod noch einen weiteren Monat oder auch nur eine Woche hinauszögern konnten, hatten sie getan, was in ihren Kräften stand.
    Er schaute wieder auf das Gesicht, das einer wächsernen Maske glich, und sah schließlich, dass die Frau in dem Bett doch nicht seine Mutter war. Ihr Kinn war runder, die Form ihrer Nase eine Spur klassischer. Die sterbende Frau war Lily Cavanaughs Twinner; es war Laura DeLoessian. Wenn Speedy gewollt hatte, dass er mehr sah, dann war er dazu nicht imstande, das reglose weiße Gesicht sagte ihm nichts von der Frau, der es gehörte.
    »Okay«, flüsterte er, schob das Brett wieder vor die Öffnung, und der Hauptmann ließ ihn herunter.
    In der Dunkelheit fragte er: »Was fehlt ihr?«
    »Das weiß niemand«, kam die Stimme des Hauptmanns von oben. »Die Königin kann nicht sehen, sie kann nicht sprechen, sie kann sich nicht bewegen …« Einen Augenblick herrschte Stille, dann berührte der Hauptmann seine Hand und sagte: »Wir müssen zurück.«
    Schweigend traten sie aus der Dunkelheit in den staubigen, leeren Raum. Der Hauptmann wischte dicke Spinnweben von seiner Uniform. Dann musterte er Jack eindringlich mit zur Seite geneigtem Kopf; auf seinem Gesicht lag unverhohlener Kummer. »Und jetzt musst du mir eine Frage beantworten«, sagte er.
    »Ja?«
    »Bist du geschickt worden, um sie zu retten? Die Königin zu retten?«
    Jack nickte. »Ich glaube – ich glaube, das gehört dazu. Aber sagen Sie mir eines.« Er zögerte. »Warum reißen die Widerlinge da draußen nicht einfach alles an sich? Sie kann sie doch nicht daran hindern.«
    Der Hauptmann lächelte, aber in seinem Lächeln war keine Spur von Humor. »Ich«, sagte er. »Meine Männer. Wir würden sie daran hindern. Ich weiß nicht, wie weit sie im Grenzland schon gekommen sind, wo weniger geregelte Verhältnisse herrschen – aber hier halten wir zur Königin.«
    Ein Muskel unter dem Auge in der narbenlosen Gesichtshälfte zuckte wie ein Fisch. Der Hauptmann drückte die Hände zusammen, Handfläche an Handfläche. »Und deine Anweisungen, deine Befehle oder was auch immer, wie lauten sie? Du sollst nach Westen gehen, stimmt das?«
    Jack konnte förmlich spüren, wie der Mann bebte und seine Erregung nur unter Kontrolle hielt, weil er zeit seines Lebens Selbstbeherrschung geübt hatte. »So ist es«, sagte er. »Ich soll nach Westen gehen. Ist das nicht richtig? Sollte ich nicht nach Westen gehen? Zu dem anderen Alhambra?«
    »Das kann ich dir nicht sagen, ich kann es nicht«, stieß der Hauptmann hervor und trat einen Schritt zurück. »Und jetzt müssen wir zusehen, dass wir hier herauskommen. Was du zu tun hast, kann ich dir nicht sagen.« Jack bemerkte, dass er ihn nicht einmal ansehen konnte. »Aber hier kannst du keinen Augenblick länger bleiben – wir müssen sehen, dass wir dich hier herausbringen, damit du fort bist, bevor Morgan kommt.«
    »Morgan?« sagte Jack; er glaubte fast, den Namen nicht richtig verstanden zu haben. »Morgan Sloat? Er kommt hierher?«

 
Siebtes Kapitel
     
    Farren
     
    1
     
    Der Hauptmann schien Jacks Frage nicht gehört zu haben. Sein Blick war in eine Ecke des leeren, unbenutzten Raums gerichtet, als gäbe es dort etwas zu sehen. Er dachte ausgiebig und angestrengt nach; das war Jack klar. Und Onkel Tommy hatte ihm beigebracht, dass das Unterbrechen eines Menschen, der angestrengt nachdenkt, ebenso ungehörig war wie das Unterbrechen eines Menschen, der redet. Aber …
    Hüte dich vor dem alten Sloat. Sei auf der Hut vor ihm und seinem Twinner … er ist hinter dir her wie der Fuchs hinter der Gans.
    Das hatte Speedy gesagt, und Jack war in Gedanken so sehr mit dem Talisman beschäftigt gewesen, dass er es fast überhört hatte. Jetzt fielen ihm die Worte

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