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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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Aftershave meinte, Kölnisch Wasser und dergleichen. Der von Osmond ausgehende Geruch war stark und puderig. Er erinnerte Jack an alte englische Schwarzweißfilme, in denen irgendein armer Kerl im Old Bailey zur Rechenschaft gezogen wurde. Die Richter und Anwälte in diesen Filmen trugen Perücken, und Jack war überzeugt, dass die Schachteln, in denen diese Perücken aufbewahrt wurden, wie Osmond riechen müssten – trocken und krümelig süß wie ein uraltes, mit Puderzucker überzogenes Gebäckstück. Darunter jedoch lag ein lebendigerer, noch unangenehmerer Geruch – der Geruch von Schweiß und Schmutz, der Geruch eines Mannes, der selten oder nie badete.
    Ja. Das war einer der Männer, die ihn an jenem Tag zu entführen versucht hatten.
    Sein Magen verkrampfte sich und geriet ins Schleudern.
    »Ich wusste gar nicht, dass Sie einen Sohn haben, Hauptmann Farren«, sagte Osmond. Obwohl er mit dem Hauptmann sprach, behielt er den Jungen im Auge. Lewis, dachte er. Ich bin Lewis, das darf ich nicht vergessen …
    »Ich könnte gut auf ihn verzichten«, erwiderte der Hauptmann und warf Jack einen wütenden, verächtlichen Blick zu. »Ich erweise ihm die Ehre, ihn in den großen Pavillon mitzunehmen, und er schleicht sich davon wie ein Hund. Ich habe ihn dabei ertappt, wie er …«
    »Ja, ja«, sagte Osmond mit abwesendem Lächeln. Er glaubt kein Wort, dachte Jack bestürzt und spürte, wie sein Verstand der Panik einen Schritt nähertaumelte. Kein einziges Wort. »Jungen sind schlecht. Alle Jungen sind schlecht. Eine unumstößliche Tatsache.«
    Er tippte Jack mit dem Griff der Peitsche leicht aufs Handgelenk. Jack, dessen Nerven bis zum Zerreißen gespannt waren, schrie auf – und errötete sofort vor Scham.
    Osmond kicherte. »Schlecht, oh ja, eine unumstößliche Tatsache, alle Jungen sind schlecht. Ich war schlecht, und ich wette, Sie waren auch schlecht, Hauptmann Farren. Eh? Eh? Waren Sie schlecht?«
    »Ja, Osmond«, sagte der Hauptmann.
    »Sehr schlecht?« fragte Osmond. Es war kaum zu glauben, aber er hatte begonnen, im Schlamm zu tänzeln. Dennoch war nichts Weibisches an ihm: Osmond war geschmeidig und fast zierlich, erweckte aber nicht den Eindruck echter Homosexualität; wenn eine Anspielung darauf in seinen Worten lag, so steckte nichts dahinter. Nein, was am deutlichsten zutage trat, war der Eindruck von Bosheit – und Wahnsinn. »Sehr schlecht? Ganz furchtbar schlecht?«
    »Ja, Osmond«, sagte Hauptmann Farren hölzern. Seine Narbe glühte in der Nachmittagssonne, jetzt mehr rot als rosa.
    »Niemand wusste, dass Sie einen Sohn haben, Hauptmann.«
    »Er ist ein Bastard«, sagte der Hauptmann. »Und ein Einfaltspinsel. Und wie sich herausstellt, außerdem noch faul.« Er wirbelte plötzlich herum und versetzte Jack eine Ohrfeige. Es lag nicht viel Kraft hinter dem Schlag, aber Hauptmann Farrens Hand war hart wie ein Ziegelstein. Jack heulte auf, fiel in den Schlamm und hielt sich das Ohr.
    »Sehr schlecht, ganz furchtbar schlecht«, sagte Osmond, und jetzt war sein Gesicht entsetzlich leer, dürr und verschlossen. »Auf mit dir, du schlechter Junge. Schlechte Jungen, die ihren Vätern nicht gehorchen, müssen gestraft werden. Und schlechte Jungen müssen befragt werden.« Er ließ die Peitsche zur Seite schnellen. Sie gab ein trockenes Knallen von sich. Jacks taumelnder Verstand gelangte zu einer weiteren merkwürdigen Assoziation – er versuchte auf jede nur erdenkliche Art nach Vertrautem zu greifen. Das Geräusch von Osmonds Peitsche glich dem Knallen des Daisy-Luftgewehrs, das er als Achtjähriger besessen hatte. Er und Richard Sloat hatten beide ein solches Gewehr gehabt.
    Osmond ergriff Jacks schlammigen Arm mit einer weißen, spinnenfingrigen Hand. Er zog Jack zu sich heran, in diese Gerüche hinein – alter süßer Puder und alter ranziger Schmutz. Sein unheimlicher grauer Blick bohrte sich eindringlich in Jacks blaue Augen. Jack spürte seine Blase schwer werden und versuchte mit aller Kraft, nicht in die Hose zu machen.
    »Wer bist du?« fragte Osmond.
     
    4
     
    Die Worte hingen über den drei Menschen in der Luft.
    Jack war sich bewusst, dass der Hauptmann ihn mit einem Blick ansah, der Strenge heuchelte, seine Verzweiflung aber nicht ganz verbergen konnte. Er hörte Hennen gackern; ein Hund bellte; von irgendwo kam das Rumpeln eines herannahenden Karrens.
    Sag die Wahrheit. Ich durchschaue jede Lüge, sagten diese Augen. Du siehst aus wie ein ganz bestimmter schlechter junge, dem ich

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