Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
Vom Netzwerk:
er eine Gabel mit hölzernen Zinken. Aus dem Stall blickte ein Pferd, kaum größer als ein Shetlandpony, verdrossen zu ihnen heraus. Sie hatten den Stall bereits passiert, als Jacks Verstand endlich begriff, was seine Augen gesehen hatten: das Pferd hatte zwei Köpfe gehabt.
    »He«, sagte er. »Kann ich noch einmal in diesen Stall sehen? Das …«
    »Keine Zeit.«
    »Aber das Pferd hatte …«
    »Keine Zeit, habe ich gesagt.« Er hob die Stimme und schrie: »Und wenn ich dich noch einmal dabei erwische, dass du dich herumtreibst, anstatt deine Arbeit zu tun, dann bekommst du die doppelte Ration!«
    »Ich will es nie wieder tun!« schluchzte Jack (dem diese Szene mittlerweile ein wenig verbraucht vorkam). »Ich schwöre es. Ich tue es nie wieder! Ich habe versprochen, dass ich brav sein will!«
    Unmittelbar vor ihnen ragten hohe Holztore aus einer Umfriedung aus Holzpfosten, an denen noch die Borke saß – sie sah aus wie eine Palisade in einem alten Western (seine Mutter hatte in einigen mitgespielt). In die Torpfosten waren schwere Klampen geschraubt, doch die Stange, die diese Klampen halten sollten, lehnte an einem Holzstapel links davon, so dick wie eine Eisenbahnschwelle. Das Tor stand fast fünfzehn Zentimeter weit offen. Irgendein verworrenes Orientierungsvermögen in Jacks Kopf ließ ihn vermuten, dass ihr Weg sie ans entgegengesetzte Ende des Pavillons geführt hatte.
    »Gott sei Dank«, sagte der Hauptmann mit normalerer Stimme. »Und nun …«
    »Hauptmann«, ertönte eine Stimme hinter ihnen. Die Stimme war leise, aber tragend und täuschend beiläufig. Der Hauptmann blieb unvermittelt stehen.
    Der Anruf kam genau in dem Augenblick, in dem Jacks narbiger Begleiter die Hand ausstreckte, um nach dem linken Torflügel zu greifen und ihn aufzustoßen; es war, als hätte der Besitzer der Stimme sie beobachtet und auf genau diesen Augenblick gewartet.
    »Vielleicht sind Sie so freundlich, mich bekannt zu machen mit Ihrem – äh –  Sohn.«
    Der Hauptmann fuhr herum und Jack gleichfalls. In der Mitte der Koppel stand, auf beunruhigende Weise fehl am Platze wirkend, der knochendürre Höfling, den der Hauptmann fürchtete – Osmond. Er blickte sie aus dunkelgrauen, düsteren Augen an. Jack sah, wie sich in diesen Augen etwas regte, irgendetwas tief drunten. Seine Angst wurde plötzlich schärfer, glich einem spitzen Gegenstand, der auf ihn einstach. Er ist verrückt – das war die intuitive Erkenntnis, die ihn ansprang. Total verrückt.
    Osmond tat zwei Schritte auf sie zu. In der Linken hielt er den mit ungegerbtem Fell überzogenen Griff einer Bullenpeitsche. Ihr Schaft, nur um ein weniges dünner als der Griff, ging in eine dunkle, geschmeidige Sehne über, die sich dreifach um seine Schulter rollte; sie war so dick wie eine Waldklapperschlange und verzweigte sich an ihren Enden in ein Dutzend Stränge, alle aus rohem Leder geflochten, alle mit einem grob gearbeiteten, aber funkelnden Metallsporn an der Spitze.
    Osmond zog am Peitschengriff, und die Schnur glitt mit einem trockenen Zischen von seiner Schulter. Er schwenkte den Griff, und die metallbesetzten Lederstränge wanden sich träge auf dem strohbedeckten Schlamm.
    »Ihrem Sohn?« wiederholte Osmond und tat einen weiteren Schritt auf sie zu. Und Jack begriff plötzlich, warum ihm dieser Mann gleich bekannt vorgekommen war. Der Tag, an dem er beinahe entführt worden war – war das nicht der Mann im weißen Anzug gewesen? Jack dachte, dass das durchaus möglich war.
     
    3
     
    Der Hauptmann ballte die Rechte zur Faust, führte sie an die Stirn und verneigte sich. Nach nur sekundenlangem Zögern tat Jack das gleiche.
    »Mein Sohn Lewis«, sagte der Hauptmann steif. Er stand noch immer gebeugt, stellte Jack mit einem verstohlenen Blick nach links fest. Also blieb er gleichfalls in dieser Stellung, mit rasendem Herzen.
    »Danke, Hauptmann. Danke, Lewis. Der Segen der Königin über euch.«
    Osmond war jetzt nur zwei Schritte entfernt und musterte Jack mit seinem verrückten, düsteren Blick. Er trug eine Lederjacke mit Brillantknöpfen. Sein Hemd war elegant gefältelt. Ein Kettenarmband klirrte an seinem rechten Handgelenk (aus seiner Art, die Peitsche zu halten, schloss Jack, dass er Linkshänder war). Sein Haar war zurückgekämmt und wurde von einem breiten Band zusammengehalten, das vermutlich aus weißem Atlas bestand. Zwei Gerüche gingen von ihm aus. Der eine war das, was seine Mutter »all diese Männerdüfte« nannte, womit sie

Weitere Kostenlose Bücher