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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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sich Jack ganz bewusst das entsetzliche Bild seiner in einem Bestattungsinstitut aufgebahrten Mutter vor Augen. Er sah sie in einem Gewoge aus weißem Organdy – sie lag in ihrem Sarg und trug das Brautkleid, das sie in Drag Strip Rumble (RKO, 1953) getragen hatte. Vor Jacks innerem Auge wurde ihr Gesicht immer deutlicher, ein vollkommenes Ebenbild in Wachs, und er sah, dass sie die Ohrringe mit den winzigen Goldkreuzen trug, die Jack ihr zwei Jahre zuvor zu Weihnachten geschenkt hatte. Dann veränderte sich das Gesicht. Das Kinn wurde runder, die Nase gerader und aristokratischer. Das Haar wurde eine Schattierung heller und irgendwie gröber. Jetzt war es Laura DeLoessian, die er in diesem Sarg liegen sah – und der Sarg selbst war nicht mehr ein glattes, anonymes Produkt der Bestattungsindustrie, sondern etwas, das aussah, als wäre es mit roher Gewalt aus einem alten Baumstamm herausgehackt worden –, ein Wikingersarg, wenn es je dergleichen gegeben hatte; sich vorzustellen, dass dieser Sarg auf einem Scheiterhaufen aus ölgetränkten Balken verbrannt wurde, war einfacher, als sich vorzustellen, dass man ihn in die widerspruchslose Erde senkte. Es war Laura DeLoessian, die Königin der Region, aber in seiner Einbildung, die jetzt die Deutlichkeit einer Vision gewonnen hatte, trug die Königin das Brautkleid seiner Mutter aus Drag Strip Rumble und die Ohrringe mit den Goldkreuzen, die er mit Onkel Tommys Hilfe bei Sharp’s in Beverly Hills ausgesucht hatte. Plötzlich kamen ihm die Tränen in einer heißen und brennenden Flut – nicht vorgetäuschte, sondern echte Tränen; er weinte nicht nur um seine Mutter, sondern um diese beiden verlorenen Frauen, die durch Welten voneinander getrennt im Sterben lagen, durch irgendeine unsichtbare Schnur verbunden, die verrotten mochte, aber nie reißen würde – zumindest so lange nicht, bis sie beide tot waren.
    Durch die Tränen sah er einen Riesen von einem Mann in wogendem Weiß durch den Raum auf sie zustürzen. Anstelle einer weißen Kochmütze trug er ein rotes Tuch um den Kopf, aber Jack vermutete, dass es den gleichen Zweck erfüllte – seinen Träger als Küchenchef auszuweisen. Außerdem schwang er eine gefährlich aussehende dreizinkige Holzgabel.
    »HINAUS!« kreischte der Küchenchef ihnen zu, und die Stimme, die aus dem gewaltigen Brustkasten kam, hatte absurderweise etwas Piepsendes an sich – es war die Stimme eines zierlichen Schwulen, der einem Strichjungen den Marsch bläst. Aber an der Gabel war nichts Absurdes; sie sah tödlich aus.
    Die Frauen flüchteten bei seinem Ansturm wie aufgescheuchte Vögel. Aus dem Drehgestell der Pastetenfrau rutschte die unterste Pastete heraus, und als sie auf den Dielen auseinander fiel, stieß die Frau einen schrillen, entsetzten Schrei aus. Erdbeersaft spritzte heraus, und sein Rot war so frisch und hell wie arterielles Blut.
    »RAUS AUS MEINER GÜCHE, IHR FAULEN GERLE! DAS IST GEINE ABGÜRZUNG! DAS IST GEINE RENNBAHN! DAS IST MEINE GÜCHE, UND WENN IHR EUCH DAS NICHT MERGEN GÖNNT, DANN SCHNEID ICH EUCH BEI GOTT DEM ZIMMERMANN EINE SCHEIBE VOM ARSCH AB!«
    Er stieß mit der Gabel nach ihnen, wobei er gleichzeitig den Kopf halb abwandte und die Augen fast vollständig zusammenkniff, als wäre ihm trotz seiner wüsten Rede der Gedanke an Blutvergießen unerträglich. Der Hauptmann löste die Hand von Jacks Nacken und holte aus – fast beiläufig, wie es Jack schien. Einen Augenblick später lag der Küchenchef in seiner ganzen Länge von fast zwei Metern auf dem Boden. Die Fleischgabel lag in einer Pfütze aus Erdbeersauce und auf Brocken von rohem weißem Teig. Der Küchenchef wälzte sich hin und her, umklammerte sein gebrochenes Handgelenk und kreischte mit seiner hohen, piepsenden Stimme. Die Neuigkeit, die er allen im Raum Anwesenden zuschrie, war schmerzlich genug er war tot, der Hauptmann hatte ihn umgebracht; er war zumindest verkrüppelt, der grausame und herzlose Hauptmann der Außenwache hatte seine gute rechte Hand vernichtet, ihn damit seines Lebensunterhalts beraubt und ihn zu einem Dasein als erbärmlicher Bettler verdammt; der Hauptmann hatte ihm entsetzliche Schmerzen zugefügt, unglaubliche Schmerzen, es war nicht auszuhalten.
    »Halt den Mund!« brüllte der Hauptmann, und der Küchenchef tat es. Er lag auf dem Fußboden wie ein Riesenbaby, die rechte Hand auf der Brust; das rote Tuch war so verrutscht, dass ein Ohr (in der Mitte des Läppchens saß eine schwarze Perle) zu sehen war, seine

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