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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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sie die Gläser abstellen, den Plattenspieler und den Verstärker ausschalten und hinuntergehen zu ihren Wagen.
    … als wir alle sechs waren und niemand war etwas anderes und es war Kalifornien …
    »Wer spielt das Saxophon?« hörte er Onkel Morgan fragen; halb in Träume versunken, hörte er die vertraute Stimme auf neue Art; irgendetwas Geflüstertes und Verstohlenes drang in Jacks Ohr. Er berührte das Verdeck des Spielzeugtaxis, und seine Finger waren so kalt, als wäre es aus Eis, nicht aus englischem Stahl.
    »Das ist Dexter Gordon, der und kein anderer«, erwiderte sein Vater. Seine Stimme war so träge und freundlich wie immer, und Jack legte die Hand um das schwere Taxi.
    »Gute Aufnahme.«
    »Daddy Plays the Horn. Eine schöne alte Platte, nicht wahr?«
    »Ich muss mich danach umsehen.« Und dann glaubte Jack zu wissen, was der merkwürdige Beiklang in Onkel Morgans Stimme zu bedeuten hatte – Onkel Morgan mochte Jazz im Grunde überhaupt nicht, er tat nur so vor Jacks Vater. Dass es so war, hatte Jack schon immer gewusst, und er fand es komisch, dass sein Vater es nicht auch bemerkte. Onkel Morgan würde sich nie auf die Suche nach einer Platte mit dem Titel Daddy Plays the Horn begeben; es ging ihm nur darum, Phil Sawyer zu schmeicheln – und Phil Sawyer bemerkte es nicht, weil weder er noch überhaupt jemand Morgan Sloat jemals genügend Aufmerksamkeit schenkte. Onkel Morgan, gerissen und ehrgeizig (»gerissen wie ein Vielfraß, tückisch wie ein Winkeladvokat«, pflegte Lily zu sagen), lenkte Aufmerksamkeit von sich ab – irgendwie glitt das Auge wie von selbst an ihm vorbei. Jacky hätte wetten können, dass sogar seine Lehrer in der Schule Mühe hatten, sich an seinen Namen zu erinnern.
    »Stell dir vor, was dieser Kerl da drüben sein würde«, sagte Onkel Morgan, ausnahmsweise Jacks volle Aufmerksamkeit auf sich lenkend. Der falsche Ton klang nach wie vor in seiner Stimme, aber es war nicht Sloats Heuchelei, die Jacks Kopf hochfahren ließ und seine Finger um sein schweres Spielzeug presste – die Worte da drüben waren schnurstracks in sein Gehirn gedrungen und tönten jetzt nachhallend wie ein Glockenspiel. Da drüben – das war das Land von Jacks Tagträumen. Das hatte er sofort gewusst. Sein Vater und Onkel Morgan hatten vergessen, dass er hinter der Couch steckte, und sie würden jetzt über die Tagträume reden.
    Sein Vater wusste über das Tagtraum-Land Bescheid. Jack hätte die Tagträume seinem Vater oder seiner Mutter gegenüber nie erwähnen können, aber sein Vater wusste über die Tagträume Bescheid, weil er Bescheid wissen musste – so einfach war das. Und der Grund dafür, den Jack mehr gefühlsmäßig empfand als bewusst zu artikulieren vermochte, lag darin, dass sein Vater half, die Tagträume zu beschützen.
    Und aus demselben Grund, gleichermaßen schwierig aus dem Bereich der Gefühle in den der Sprache zu übersetzen, flößte ihm die Verbindung zwischen Morgan Sloat und den Tagträumen Unbehagen ein.
    »Wie?« sagte Onkel Morgan. »Dieser Kerl würde sie regelrecht umstülpen, meinst du nicht? Wahrscheinlich würden sie ihm zum Herzog des Verheerten Landes machen oder etwas dergleichen.«
    »Das wohl nicht gerade«, sagte Phil Sawyer. »Nicht wenn er ihnen so gut gefällt wie uns.«
    Aber Onkel Morgan gefällt er gar nicht, dachte Jack, der plötzlich begriff, dass dies wichtig war. Er gefällt ihm nicht, überhaupt nicht, er findet, die Musik ist zu laut, er glaubt, sie nähme ihm etwas weg …
    »Nun, davon verstehst du wesentlich mehr als ich«, sagte Onkel Morgan mit einer Stimme, die umgänglich und entspannt klang.
    »Gewiss, ich war öfter dort als du. Aber du holst ganz gut auf.« Jacky hörte, dass sein Vater lächelte.
    »Oh, ich habe dies und jenes gelernt, Phil. Aber weißt du – ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich dir bin, dass du mir das alles gezeigt hast.« Die beiden Silben von dankbar füllten sich mit Rauch und dem Klirren brechenden Glases.
    Doch all diese kleinen Warnungen hinterließen in Jacks intensiver, fast beseligter Zufriedenheit kaum mehr als leichte Dellen. Sie redeten über die Tagträume. Es war der reinste Zauber, dass dergleichen möglich war. Was sie sagten, war zu hoch für ihn, sie tauschten die Begriffe und das Vokabular von Erwachsenen, aber der sechsjährige Jack durchlebte von neuem das Wunder und das Glück der Tagträume, und er war zumindest alt genug, um zu begreifen, in welche Richtung ihre Unterhaltung ging.

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