Der tanzende Tod
es. All diese Zeit, und dann ist man sich dessen nicht einmal bewusst. Es scheint mir einfach nicht richtig.«
»Genau aus diesem Grunde hörte sie bei dir damit auf. Schon vor langer Zeit.«
»Und sorgte dafür, dass ich es vergaß. Sie konnte nicht damit leben, dass ich diese Dinge in meinem Kopf mit mir herumtrug, und sie konnte nicht erwarten, dass ich es nicht früher oder später jemandem erzählte. Sie hatte wohl keine andere Wahl, nicht wahr? Nichtsdestotrotz fühle ich mich recht sonderbar deswegen.«
»Dann solltest du mit ihr reden.«
»Nun – äh – nun, ich bin mir nicht so sicher, ob ich dies probieren sollte. Außerdem hat sie sich bereits dafür bei mir entschuldigt, als ich zu ihr ging, um sie abzuholen. Das Thema erneut anzusprechen, könnte aussehen, als besäße ich keine Manieren.«
»Dies ist wahr. Vielleicht ist dann das, was du brauchst, eine ganz gewöhnliche Unterhaltung mit ihr, welche dir helfen wird zu erkennen, dass es an ihr noch mehr gibt als das, was du in der Vergangenheit mit ihr erlebt hast. Ich kann dir sagen, es bedeutet Nora sehr viel, dass du ihr trotz allem, was du weißt, noch immer Freundschaft entgegenbringst.«
»Tatsächlich?«
»Dieser Zustand isoliert sie auf eine furchtbare Weise von anderen Menschen. Sie hat mir zu verstehen gegeben, dass sie nur selten Leute getroffen hat, welche ihn bereitwillig akzeptierten. Sie war wie vom Donner gerührt, als ich ihr erzählte, wie viele Menschen von meiner Veränderung wissen. Für sie bedeutet es einen großen Seelentrost, sich in einem Freundeskreis aufzuhalten, wo sie die Freiheit besitzt, sie selbst sein zu dürfen und nicht lügen oder andere beeinflussen zu müssen, um eine angstvolle Reaktion zu vermeiden.«
»Bei Gott, so ist es für sie?« Er sah sie mit neuen Augen. »Aber sie scheint so selbstsicher zu sein.«
»Das ist das Ergebnis jahrelanger Übung.« Ich wagte es nicht, Vermutungen darüber anzustellen, um wie viele Jahre es sich dabei handelte, und sprach diesen Gedanken auch nicht laut aus. »Gehe einfach so unbefangen mit ihr um, wie du es mit mir tust, Oliver, und sei ihr ein Freund. Sie wird nichts weiter von dir verlangen, das verspreche ich dir.« Ich warf einen bedeutsamen Blick auf seinen Hals, und er lief tiefrot an.
»Hm – äh – nun, natürlich. Ich werde es gerne tun, Vetter. Wenn du dir sicher bist.«
»Du hast mein Wort darauf.«
Dann drehte ich ruckartig den Kopf, ebenso Nora, da wir die Ersten waren, die das Geräusch hörten. Elizabeth und Oliver erstarrten, um selbst zu horchen, und vernahmen es ebenfalls: den Klang schneller Schritte in der Halle außerhalb.
Jericho hatte den größten Teil des Tages damit verbracht, sich am Eingangstor zu postieren und mit anderen Wache zu halten, um auf Clarindas versprochene Botschaft zu warten. Schwitzend und atemlos von seinem schnellen Lauf platzte er nun herein, mit einem dünnen in Wachstuch eingeschlagenen Päckchen in der Hand.
Er brauchte nicht zu erklären, worum es sich handelte, denn ein Stück eines weißen Stoffes war daran festgebunden. Wir stürzten uns auf ihn wie Diebe, die über einen Schatz herfallen. Dieses Mal erkannte ich Clarindas schwungvolle Handschrift. Der Brief war an Elizabeth adressiert, was mir merkwürdig vorkam, bis mir einfiel, dass sie mich für tot hielten. Mit großer Willensanstrengung händigte ich ihn ihr aus, damit sie ihn öffnete. Ich hätte es ohnehin nicht selbst tun können, da meine Hände zu stark zitterten.
Sie riss ihn auf und entfaltete das Wachstuch. Im Inneren befand sich ein einzelnes Blatt Papier, auf dem nur wenige Zeilen zu lesen waren. Elizabeth las laut vor: »Kommt morgen Abend um diese Zeit in die Stadt Brighthelmstone. Ihr werdet feststellen, dass ›The Bell‹ ein höchst angenehmer Ort ist, um dort zu logieren. Vergesst nicht, euer spezielles Geschenk für R mitzubringen.«
»Es gibt keine Unterschrift«, sagte Elizabeth. »Und es ist so ungenau formuliert, dass man denken könnte, es handle sich um nichts weiter als um eine unschuldige Einladung. Sie bringt sich selbst damit nicht in Gefahr.«
»Wie schön für sie«, knurrte Oliver. »Wo, zum Teufel, liegt Brighthelmstone?«
»Es ist eine kleine Küstenstadt, etwa fünfzig Meilen südlich von London«, teilte uns Nora mit. »Ich machte dort einmal vor Jahren Rast, nachdem ein Sturm bei einer Kanalüberfahrt unser Schiff vom Kurs abgebracht hatte. Aber ich fürchte, ich erinnere mich nicht mehr an vieles.«
»Ich wette,
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