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Der taubenblaue Drache / eBook (German Edition)

Der taubenblaue Drache / eBook (German Edition)

Titel: Der taubenblaue Drache / eBook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Vonnegut
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schätzten seinen Wohlstand auf einhundert Armbanduhren. Louis’ eigene Schätzung dagegen belief sich auf bescheidene dreiundfünfzig Uhren, siebzehn Eheringe, sieben Ringe mit
Schulwappen und eine ererbte Uhrtasche. »Einige der Uhren erfordern noch elend viel Reparaturarbeiten«, sagte er mir.
    Wenn ich sage, daß die US-Luftwaffe unter anderem die Zigarettenfabriken plattgemacht hat, meine ich, daß auch eine Anzahl menschlicher Wesen in die Luft gejagt wurde –,
so etwa 200   000. Unsere Aktivitäten bekamen etwas Schauriges. Wir mußten die Toten aus ihren unzählbaren Krypten exhumieren. Viele trugen Schmuck, und die meisten hatten ihre
Wertsachen mit in den Luftschutzkeller genommen. Zuerst scheuten wir die Grabbeigaben. Erstens fanden einige von uns das Plündern von Leichen widerwärtig, und zweitens bedeutete es den
sicheren Tod, wenn man erwischt wurde. Es bedurfte eines Louis, um uns zur Vernunft zu bringen. »Ja, Gottchen, Kleiner, du könntest in fünfzehn Minuten genug verdienen, um dich zur
Ruhe zu setzen. Wenn sie mich nur mal einen Tag lang mit euch Jungs raus ließen!« Er leckte sich die Lippen und fuhr fort: »Ich werd’ dir was sagen. Ich mache es so,
daß du wirklich was davon hast. Du besorgst mir einen guten Diamantring, und dafür kriegst du von mir genügend Rauch und Happahappa, solang wir in diesem Loch sind.«
    Am nächsten Abend brachte ich ihm seinen Ring, in den Hosenaufschlag gesteckt. Das, stellte sich heraus, taten alle. Als ich ihm den Diamanten zeigte, schüttelte er den Kopf.
»Ach, was für eine Affenschande«, sagte er. Er hielt den Stein gegen das Licht einer Lampe: »Da hat der arme Junge sein Leben für einen Zirkon riskiert!« Jeder
hatte, wie eine gründliche Untersuchung ergab, entweder einen Zirkon, einen Granat oder einen Simili mitgebracht. Außerdem wies Louis uns darauf hin, daß selbst der geringe Wert,
den dieser Tand haben mochte, durch einen verstopften Markt zunichte gemacht wurde. Ich stieß mein Plündergut für vier Zigaretten ab; andere bekamen ein Stück Käse, ein
paar hundert Gramm Brot oder zwanzig Kartoffeln. Manche hielten an ihren Prachtstücken fest. Von Zeit zu Zeit plauderte Louis mit ihnen über die Gefahren, die es barg, wenn man mit Beute
erwischt wurde. »Den armen Teufel drüben im Britenlager hat es heute erwischt«, sagte er dann. »Sie haben ihn mit einer Perlenkette geschnappt. Hatte er sich ins Hemd
genäht. Haben nur zwei Stunden für Prozeß und Erschießung gebraucht.« Früher oder später wurde jeder mit Louis handelseins.
    Nachdem auch der letzte von uns aller Wertsachen ledig war, filzte die SS unangemeldet unsere Unterkünfte. Louis’ Koje blieb als einzige unangetastet. »Er verläßt nie
das Gelände und ist ein perfekter Gefangener«, beeilte sich ein Aufpasser den Inspektoren zu erläutern. Als ich an jenem Abend zurückkam, war meine Matratze aufgeschlitzt, und
das Stroh war über den Fußboden verstreut.
    Aber selbst Louis lachte das Glück nicht durchgehend, denn in den letzten Kampfwochen wurden unsere Bewacher weggeschickt, um die russische Flut zum Stillstand zu bringen, und eine Kompanie
lahmer alter Männer wurde herangeschafft, um über uns zu wachen. Der neue Feldwebel hatte keinen Bedarf an einer Ordonnanz, einem Burschen oder Putzfleck, und Louis sank in die
Anonymität unserer Gruppe. Der demütigendste Aspekt seiner neuen Lage war, daß er mit dem gemeinen Volk zum Arbeitseinsatz mußte. Das verbitterte ihn, und er verlangte ein
klärendes Gespräch mit dem neuen Feldwebel. Er bekam das Gespräch und war etwa eine Stunde lang weg.
    Als er zurückkam, fragte ich ihn: »Na, wieviel verlangt Hitler für Berchtesgaden?«
    Louis trug ein in Handtücher eingewickeltes Paket. Er öffnete es und enthüllte zwei Scheren, ein paar Haarschneidemaschinen und ein Rasiermesser. »Ich bin der
Lagerfriseur«, sagte er an. »Laut Befehl des Lagerkommandanten soll ich euch Herren präsentabel machen.«
    »Und wenn ich mir von dir nicht die Haare schneiden lassen will?« fragte ich.
    »Dann werden deine Rationen halbiert. Auch das auf Befehl des Lagerkommandanten.«
    »Würde es dir etwas ausmachen, uns zu sagen, wie du diesen Auftrag bekommen hast?« fragte ich.
    »Ganz und gar nicht, ganz und gar nicht«, sagte Louis. »Ich habe ihm nur gesagt, wie sehr ich mich schäme, mit einem Haufen ungepflegt wirkender Männer in
Zusammenhang gebracht zu werden, die wie Gangster aussehen, und daß er sich schämen

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