Der taubenblaue Drache / eBook (German Edition)
»Ich weiß kaum, was ich dir sagen soll, Kleiner. Der Wachhabende, mit dem ich geschäftlich zu tun habe, hat mir gesagt, der gesamte Uhrenmarkt ist ins Bodenlose abgestürzt,
seitdem all die Jungs von der Ardennenoffensive reingekommen sind. Zu viele Uhren zum selben Termin, das ist der Grund. Tut mir leid, aber ich möchte, daß du weißt: Louis hat dir
das Maximum für diese Uhr herausgeholt.« Er machte einen Ausfall in Richtung des Brotes unter der Matratze. »Wenn du meinst, ich hab’ dich übers Ohr gehauen, brauchst du
nur das Wort zu sagen, dann nehm’ ich dies wieder mit, und du kriegst deine Uhr zurück.«
Mein Magen knurrte. »Ach, Hölle, Louis«, seufzte ich, »laß es hier.«
Als ich am nächsten Morgen erwachte, sah ich auf meine Uhr, um zu sehen, wie spät es war. Und dann fiel mir ein, daß ich keine Uhr mehr besaß. Der Mann in der Koje
über mir war ebenfalls bereits munter. Ich fragte ihn nach der Uhrzeit. Er steckte den Kopf über den Kojenrand, und ich sah, daß er den Rachen voller Brot hatte; als er sprach,
überschüttete er mich mit Krumen. Er sagte, er habe keine Uhr mehr. Er kaute und schluckte, bis eine größere Portion des riesigen Brotklumpens aus seinem Munde entfernt war und
er sich verständlich machen konnte. »Ich soll mich für Uhrzeit interessieren, wenn Louis mir zwei Brote und zehn Zigaretten für eine Uhr gibt, die neu nicht mal zwanzig Dollar
wert war?« fragte er.
Louis hatte ein Monopol auf herzliches Einvernehmen mit den Aufpassern. Sein bekundeter Einklang mit Nazi-Prinzipien überzeugte unsere Hüter, daß er der einzig Gewitzte von uns
war, und wir alle mußten unsere Schwarzmarktgeschäfte über diesen Oberflächen-Judas abwickeln. Sechs Monate nach unserer Einquartierung in Dresden hatte außer Louis und
den Aufpassern niemand mehr die Möglichkeit herauszufinden, wie spät es war. Zwei Wochen danach hatte Louis jedem Ehemann seinen Ehering mit diesem Argument abgeschwatzt: »Okay, nur
zu, sei sentimental, nur zu, stirb Hungers. Liebe ist was Wunderbares, habe ich mir sagen lassen.«
Seine Profite waren enorm. Ich fand später heraus, daß zum Beispiel meine Uhr einen Preis von einhundert Zigaretten und sechs Laib Brot erzielt hatte. Jeder, der mit dem Hungertod
vertraut ist, wird zugeben müssen, daß dies ein gutaussehender Preis war. Louis wandelte den größten Teil seines Wohlstands in die übertragbarste aller Sicherheiten um,
in Zigaretten. Und dann dauerte es nicht mehr lang, bis ihm die Möglichkeiten als Kredithai dämmerten. Einmal alle vierzehn Tage wurden uns zwanzig Zigaretten zugeteilt. Sklaven der
Tabakgewohnheit vertilgten die Ration in einem bis zwei Tagen und waren in einem Zustand der Raserei, bis die nächste Ration kam. Louis, der inzwischen gern als »der Freund des
Volkes« oder »der lautere Louis« bezeichnet wurde, gab bekannt, man könne Zigaretten bei ihm bis zur nächsten Ration zu einem maßvollen Zinssatz von fünfzig
Prozent borgen. Bald hatte er seinen Wohlstand verliehen und vergrößerte ihn alle vierzehn Tage um die Hälfte. Ich stand tief in seiner Schuld, mit nichts als zusätzlicher
Sicherheit als meiner Seele. Ich nahm ihn wegen seiner Habgier ins Gebet. »Christus vertrieb die Wechsler aus dem Tempel«, mahnte ich ihn.
»Die haben aber Geld verliehen, mein Junge«, erwiderte er. »Ich bettel’ doch nicht, daß du meine Zigaretten ausborgst, oder? Du bettelst mich an, daß ich dir
welche leihe. Zigaretten sind Luxusgüter, mein Freund. Man braucht nicht zu rauchen, um am Leben zu bleiben. Du würdest wahrscheinlich, ohne zu rauchen, länger leben. Warum gibst du
diese schmutzige Angewohnheit nicht sowieso auf?«
»Wie viele kann ich bis nächsten Dienstag kriegen?« fragte ich.
Als der Wucher seinen Schatz auf den höchsten Stand aller Zeiten hatte anschwellen lassen, bewirkte eine Katastrophe, die er ungeduldig erwartet hatte, daß der Wert seiner Zigaretten
in die Höhe schoß. Die US-Luftwaffe fegte über die schwächlichen Dresdner Verteidigungsanlagen hinweg, um, unter anderem, die größeren Zigarettenfabriken zu
demolieren. Als Folge wurden nicht nur die Rationen der Kriegsgefangenen, sondern auch die der Bewacher und der Zivilbevölkerung komplett gestrichen. Louis war eine beherrschende Gestalt der
dortigen Finanzwelt. Die Aufpasser sahen sich ohne Tabakwaren und begannen, Louis unsere Ringe und Uhren zu einem geringeren Preis zurückzuverkaufen, als sie ihm gezahlt hatten. Manche
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