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Der taubenblaue Drache / eBook (German Edition)

Der taubenblaue Drache / eBook (German Edition)

Titel: Der taubenblaue Drache / eBook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Vonnegut
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Louis
Gigliano, der Zigarren rauchte, seit er zwölf war, viel besser darauf vorbereitet war, im Chaos zu blühen und zu gedeihen, als ich, der ich geübt war, Widrigkeiten mit einem
Taschenmesser samt Dosenöffner und Gürtellochstanzer zu begegnen.
    Das Examen in der mannhaften Kunst des Überlebens, an das ich denke, fand in einem Kriegsgefangenenlager in Dresden statt. Ich, ein schnörkelloser amerikanischer Bubi, und Louis, ein
zügelloser kleiner Schluri, dessen Beschäftigung im Zivilleben das Verticken von Haschisch an Schulmädchen mit weißen Söckchen gewesen war, waren gemeinsam dem Leben
ausgesetzt. Ich erinnere mich jetzt an Louis, weil ich total pleite bin und weil ich weiß, daß Louis irgendwo auf dieser Welt, die er nur allzu gut versteht, wie ein Fürst lebt. So
war es auch schon in Deutschland.
    Nach den demokratischen Bestimmungen der Genfer Konvention waren wir, als Gefreite und gemeine Soldaten, verpflichtet, für unseren Lebensunterhalt zu arbeiten. Deshalb arbeiteten wir alle,
das heißt, alle bis auf Louis. Seine erste Tat hinter Stacheldraht war, einem englischsprechenden Nazi-Aufpasser zu melden, er persönlich wolle mit diesem Krieg nichts zu tun haben, den
er als Bruderkrieg und Machwerk Roosevelts und des internationalen Bankjudentums ansehe. Ich fragte ihn, ob er das wirklich meine.
    »Ich bin müde, um Himmels willen nochmal«, sagte er. »Ich habe sie sechs Monate lang bekämpft, und jetzt bin ich müde. Ich brauche Ruhe, und ich esse so gern wie
wir alle. Nun lach doch mal!«
    »Lieber nicht, vielen Dank«, sagte ich eisig.
    Ich wurde mit einem Spitzhacke-und-Schaufel-Spezialkommando ausgeschickt; Louis blieb als Ordonnanz, Bursche oder Putzfleck des deutschen Feldwebels im Lager. Louis bekam Sonderrationen
dafür, daß er den Feldwebel dreimal täglich mit dem Wedel abstaubte. Ich bekam einen Leistenbruch, weil ich hinter der amerikanischen Luftwaffe saubermachte.
    »Kollaborateur!« raunte ich ihm nach einem besonders erschöpfenden Tag auf den Straßen zu. Er stand neben einem Aufpasser beim Gefängnistor, wie aus dem Ei gepellt
und munter, und nickte seinen Bekannten in der staubigen, ermüdeten Arbeitskolonne zu. Als Reaktion auf meine höhnische Bemerkung begleitete er mich in die Unterkünfte.
    Er legte mir die Hand auf die Schulter. »Und nun kannst du es mal so betrachten, Kleiner«, sagte er. »Da hilfst du dem Kraut und räumst ihm
seine Straßen frei, damit er wieder mit Panzern und Lastern drauf fahren kann. So was nenne ich Kollaboration. Ich, Kollaborateur? Du hast es genau falschrum kapiert. Alles, was ich mache, um
dem Kraut zum Sieg zu verhelfen, ist, daß ich seine Zigaretten rauche und ihn um noch mehr Essen anhaue. Ganz schön verwerflich, was?«
    Ich sackte auf meine Koje. Louis nahm auf einem nahen Strohsack Platz. Mein Arm hing von der Koje herab, und Louis interessierte sich für meine Armbanduhr, ein Geschenk meiner Mutter.
    »Hübsch, sehr hübsche Uhr, Kleiner«, sagte er. Und dann: »Hungrig nach der vielen Arbeit, möcht’ ich wetten.«
    Ich hatte einen Bärenhunger. Ersatzkaffee, ein Teller Wassersuppe und drei Scheiben trocken Brot sind nicht die Sorte Kost, die das Herz eines Spitzhackenschwingers nach neun Stunden
Zwangsarbeit höher schlagen läßt. Louis hatte Mitgefühl. Er mochte mich; er wollte helfen. »Du bist ein netter Junge«, sagte er. »Ich werd’ dir sagen,
was ich machen werde. Ich mach’ mit dir ein schnelles Tauschgeschäft. Hat doch keinen Sinn, Kohldampf zu schieben. Diese Uhr ist zwei Laib Brot wert, aber mindestens. Ist das ein gutes
Geschäft, oder ist das kein gutes Geschäft?«
    Zu jenem Zeitpunkt waren zwei Laib Brot ein blendender Köder. Es war eine unglaubliche Menge Nahrung für einen einzelnen Menschen. Ich versuchte, den Preis hochzutreiben. »Sieh
mal, Freund«, sagte er, »dies ist ein Sonderpreis für dich, und es ist ein Spitzenpreis. Ich versuche, dir einen Gefallen zu tun, verstehst du? Alles, was ich von dir verlange,
ist, daß du Stillschweigen bewahrst, sonst kommen alle an und wollen zwei Laib Brot für eine Uhr. Versprochen?«
    Ich schwor bei allem, was heilig ist, daß ich nie Louis’, meines besten Freundes, Großherzigkeit preisgeben würde. Nach einer Stunde war er wieder da. Er warf einen
verstohlenen Blick in die Runde, zog einen langen Laib Brot aus einer zusammengerollten Feldjacke und stopfte ihn unter meine Matratze. Ich wartete auf die zweite Einzahlung. Sie erfolgte nicht.

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