Der taubenblaue Drache / eBook (German Edition)
durch, allen voran Paul, und überzeugten sich gegenseitig davon, daß es vollkommen berechtigt wäre, die Häuser des Feindes zu
plündern. Gemeinsam fielen sie ins nächststehende Haus ein, ein Haus, das bereits vor ihrer Ankunft in Peterswald leer gestanden hatte. Es war bereits weidlich ausgeschlachtet worden;
kein Glas war in den Fenstern verblieben; jede Schublade war hingeschmissen, jedes Kleidungsstück aus dem Schrank gezerrt worden; Geschirrschränke waren leergeräumt, und Kissen und
Matratzen waren von Stöberern aufgeschlitzt worden. Jeder der Marodeure vor Paul und seinen Freunden hatte die Haufen untersucht, die sein Vorgänger hinterlassen hatte, und nichts als
Tuchfetzen und ein paar Töpfe waren übriggeblieben.
Es war fast Abend, als sie die traurige Stätte übernahmen, und sie fanden nichts von Interesse. Paul merkte an, daß in dem Haus wahrscheinlich noch nie viel zu holen gewesen war;
wer dort auch gewohnt hatte, war arm gewesen. Die Möbel waren schäbig, die Wände blätterten ab, und außen mußte gestrichen und gerichtet werden. Aber als Paul die
Treppe zum winzigen ersten Stock hochstieg, fand er ein erstaunliches Zimmer, das nicht in das Armutsmuster paßte. Es war ein Schlafzimmer, in fröhlichen Farben dekoriert, mit
wunderschön geschnitzten Möbeln, Märchenlandbildern an bonbonfarben gestreiften Wänden und frisch gestrichenen Holzteilen. Weggeworfene Beute, ein verlorenes Häufchen
Spielsachen, war mitten auf dem Fußboden. Die einzigen Gegenstände im ganzen Haus, die nicht durcheinandergebracht worden waren, standen an der Wand beim Kopfende des Bettes, sie waren
ein Paar »ich werd’ verrückt, Kinderkrücken«.
Die Amerikaner einigten sich, nachdem sie nichts von Wert gefunden hatten, darauf, daß der Tag für die Schatzsuche schon zu weit fortgeschritten war, und schlugen vor, sich an die
Bereitung eines Abendessens zu machen. Sie hatten noch reichlich von dem Essen übrig, das die Russen ihnen geschenkt hatten, fanden aber, daß an diesem Tag der Tage das Abendessen etwas
Besonderes sein sollte, mit Huhn, Milch und Eiern und vielleicht sogar einem Kaninchen. Auf der Suche nach derartigen Delikatessen brach das Trio auf, um die benachbarten Scheunen und
Bauernhöfe zu durchkämmen.
Paul spähte in die kleine Scheune hinter dem Haus, das sie auszurauben gehofft hatten. Was es dort auch an Nahrung oder Viehbestand gegeben haben mochte, war vor Stunden weggekarrt worden,
überlegte er. Auf dem festgetretenen Lehmfußboden bei der Tür lagen ein paar Kartoffeln, die er aufhob, aber sonst nichts. Während er sich die Kartoffeln in die Taschen stopfte
und weiter wollte, hörte er aus einer Ecke ein leises Rascheln. Das sanfte Geräusch wurde wiederholt. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er einen
Kaninchenstall sehen, in dem ein dickes weißes Kaninchen saß, das mit seiner rosa Nase zuckte und schnell atmete. Das war ein sensationeller Glücksfall, die pièce de résistance für das Bankett. Paul öffnete das Türchen und zog das Tier heraus, welches keinerlei Protest einlegte, indem er es an den Ohren
hielt. Weil er noch nie mit bloßen Händen ein Kaninchen getötet hatte, war er nicht sicher, wie er dabei vorgehen sollte. Schließlich legte er den Kopf des Kaninchens auf
einen Hackklotz und zerschmetterte ihn mit dem stumpfen Ende einer Axt. Es zappelte schwächlich ein paar Sekunden mit den Beinen und starb.
Zufrieden mit sich, machte Paul sich ans Abhäuten und Ausnehmen des Kaninchens und schnitt eine Pfote als Glücksbringer für die sicher zu erwartenden besseren Zeiten ab. Als er es
geschafft hatte, stand er vor dem Scheunentor und betrachtete den Frieden, den Sonnenuntergang und den Strom betretener deutscher Soldaten, die sich aus dem letzten Widerstandsnest nach Hause
schleppten. Mit ihnen zogen die matten Zivilisten, die morgens auf derselben Straße geflohen waren und dann vom russischen Vormarsch zurückgeschickt worden waren.
Plötzlich wurde sich Paul dreier Gestalten bewußt, die sich von der trübseligen Prozession absetzten und auf ihn zukamen. Vor dem lädierten Haus blieben sie stehen. Eine
Woge von Reue und Kummer blähte sich in Pauls Brust: »Dies müssen ihr kleines Haus und ihre Scheune sein«, dachte er. »Sie müssen dem alten Mann und der alten Frau
und dem verkrüppelten Jungen gehören.« Die Frau weinte, und der Mann schüttelte den Kopf. Der Junge versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, er
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