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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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Geste. »Aber ich habe doch diese Mauern errichtet…« Als wollte die Sonne seiner Erklärung Nachdruck verleihen, ließ sie die Festung erstrahlen und wärmte die Toten mit Purpur.
    »Eine Obszönität ist das!«, stieß Nautzera hervor.
    Die Netze umflatterten die angenagelten Leichen. Wo die Mauer rechts von ihm aus seinem Blickfeld verschwand, sah Achamian einen verwesten Arm hin- und herschwenken, als wollte er unsichtbare Schiffe warnen.
    »Wie alle Monumente und Denkmäler«, entgegnete Mekeritrig und senkte das Kinn zur rechten Schulter, was bei den Nichtmenschen Zustimmung bedeutete. »Schließlich sind das nur Prothesen, die unsere Unfähigkeit und Schwäche verkünden. Mag sein, dass ich ewig lebe, doch was ich durchlebt habe, ist leider sterblich. Dein Leiden, Seswatha, ist meine Erlösung.«
    »Nein, Cet’ingira…« Die Anstrengung in Seswathas Stimme erfüllte Achamian mit einem Schmerz, der ihm Tränen in die Augen trieb. Er hatte diesen Traum nicht vergessen. »Es muss nicht so sein! Ich habe die alten Chroniken gelesen. Ich habe die Inschriften der Weißen Säle studiert, ehe Celmomas befahl, Euer Standbild zu zerschlagen. Ihr wart einst bedeutend. Ihr gehörtet zu denen, die uns voranbrachten und die Norsirai zum wichtigsten Stamm der Menschen machten! Dies seid nicht Ihr gewesen, mein Prinz! Niemals!«
    Wieder nickte Mekeritrig unheimlich zur Seite. Eine Träne lief ihm über die Wange. »Und darum, Seswatha, darum…«
    Wo eine Liebkosung verging, blieb eine Narbe – in dieser einfachen Tatsache lag die tragische und furchtbare Wahrheit der Nichtmenschen. Mekeritrig hatte hundert Menschenleben lang gelebt, ja mehr. Wie mochte es sein, fragte sich Achamian, wenn jede erlösende Erinnerung – an die Berührung einer Geliebten, an das fröhliche Kreischen eines Kindes – durch geballten Schmerz, Schrecken und Hass ausgelöscht worden war? Um die Seele eines Nichtmenschen zu verstehen, hatte der Philosoph Gotagga einst geschrieben, brauche man nur den Rücken eines alten, überheblichen Sklaven zu entblößen: Narben über Narben. Das war es, was sie in den Wahnsinn trieb. Sie alle.
    »Ich bin ein Erratiker«, sagte Mekeritrig nun. »Ich tue, was ich hasse. Ich hebe mein Herz der Peitsche entgegen, damit ich mich erinnere! Weißt du, was das bedeutet? Dass ihr meine Kinder seid!«
    »Es muss eine andere Möglichkeit geben«, keuchte Nautzera.
    Der Nichtmensch senkte den kahlen Kopf wie ein Sohn, den im Beisein des Vaters die Reue überkommt. »Ich bin ein Erratiker…« Als er aufsah, glänzten wieder Tränen auf seinen Wangen. »Es gibt keine andere Möglichkeit.«
    Nautzera zerrte an den Nägeln, die seine Arme durchbohrten, und rief unter Qualen: »Dann tötet mich! Tötet mich endlich!«
    »Aber du weißt es, Seswatha.«
    »Was soll ich wissen?«
    »Wo sich der Heronspeer befindet.«
    Nautzeras Augen weiteten sich, und er biss die Zähne vor Schmerz zusammen. »Wenn ich das wüsste, wäret Ihr hier angenagelt, und ich wäre Euer Peiniger.«
    Mekeritrig schlug Nautzera so heftig mit dem Handrücken ins Gesicht, dass Achamian zusammenfuhr.
    »Ich werde dich grausam heimsuchen«, krächzte der Nichtmensch. »Obwohl ich liebe, werde ich die Grundfesten deiner Seele erschüttern, dich von den Illusionen des Wortes ›Mensch‹ befreien und das seelenlose Tier hervorzerren, das die schreiende Wahrheit aller Dinge ist… Du wirst es mir sagen!«
    Der alte Mann hustete und spuckte Blut.
    »Und ich, Seswatha… ich werde mich dessen erinnern!«
    Achamian sah die zusammengewachsenen Zähne des Nichtmenschen. Mekeritrigs Augen flackerten wie Speere aus Sonnenlicht. Um seine Fingerspitzen bildeten sich orangefarbene Kreise. Sie waren kochend heiß und schäumten an den Rändern. Achamian erkannte die Formel sofort: eine Quya-Variante der Thawa-Bindungen. Mit glühenden Händen packte Mekeritrig Seswathas Stirn und sägte ihm in Körper und Seele zugleich.
    Nautzera heulte in Stimmen, von denen keine die seine war.
    »Sch!«, flüsterte Mekeritrig, kniff den alten Hexenmeister in die Wange und drückte mit dem Daumen dessen Tränen weg. »Sei still, Kind…«
    Nautzera krümmte sich würgend.
    »Bitte«, sagte der Nichtmensch. »Bitte weine nicht…«
    Und Achamian brüllte: Nautzera! Er konnte es nicht mit ansehen, nicht noch einmal, nicht nach dem, was die Scharlachspitzen ihm angetan hatten. Ihr träumt, Nautzera! Ihr träumt!
    Das große Dagliash lag stumm da. Seeschwalben und Krähen fegten heran

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