Der tausendfältige Gedanke
gewöhnlich in immer grelleren Farben dargestellt wurden, hatte Achamian diese Geschichte stets als Propaganda abgetan. Doch genau in der Mitte des Podiums befand sich ein alter Sockel, auf dem tatsächlich ein Bett gestanden haben mochte.
Vermutlich war es einmal ein Altar gewesen.
Auf dem Steinboden unterhalb des Podiums liefen die Hohen und Niederen Herren zwischen dicken Säulen umher, die mit den Insignien der Länder geschmückt waren, die sie erobert hatten. Weiße Banner, die den Stoßzahn und das Zirkumfix in Schwarz und Gold trugen, waren ringsum zwischen die freistehenden Säulen gebunden worden. Das allgemeine Gemurmel ebbte plötzlich ab, und Achamian fragte sich, ob sie Kellhus entdeckt hatten. Er sah über die Schulter und blickte die Treppe hinauf, die von der Rückseite des Podiums zu der beschädigten Galerie anstieg, die über und hinter ihm verlief. Von Kellhus war nichts zu sehen, doch er entdeckte einen Punkt aus flatterndem Schwarz, der über dem fernen Netz aus Gassen und Gängen hing, das sich im Dunst erhob. Achamian blinzelte und runzelte die Stirn… Spürte er etwa das Mal?
Handelte es sich da um einen hexenkundigen Vogel?
»Wir sind angekommen«, rief eine volltönende Stimme.
Erschrocken blickte Achamian wieder auf die Treppe und sah Kellhus zum ersten Absatz heruntersteigen. Sein Bart war geflochten wie im alten Shir, und sein weißes Gewand war mit schimmerndem Gold bestickt. Es war seltsam, ja beängstigend, das Mal auch an ihm zu spüren. Es mochte eine unvorstellbare Zukunft verheißen, doch es beschmutzte ihn auch irgendwie.
Achamian sah wieder zum Himmel, aber der Vogel war nirgendwo zu entdecken.
»Endlich«, fuhr Kellhus fort und stieg ungezwungen die letzten Stufen hinab, »wandeln wir auf dem Boden der heiligen Schriften.«
Achamians Gedanken rasten. Was sollte er tun? Planten die Rathgeber einen Angriff, oder führten nur die Scharlachspitzen etwas im Schilde? Er beschloss, wachsam zu bleiben und dem Sog von Kellhus’ Redekunst keine Beachtung zu schenken.
Der Kriegerprophet ging zu Esmenet hinüber und legte ihr eine auratische Hand auf die Schulter. »Genau von hier«, sagte er, »sah der alte Shikol auf seinen liederlichen Hofstaat und fragte: ›Wer ist dieser Knecht, der als König spricht?‹« Er deutete mit großer Geste auf die Ruinen ringsum. »Genau hier hat Shikol den Goldenen Oberschenkelknochen erhoben… und meinen Bruder gerichtet.«
Wie immer redete Kellhus, als erschöpfte sich die Bedeutung seiner Worte in der Wahrheit, die durch sie hindurchschien, und als würden sie von ihr verzehrt. Befasst euch nur mit diesen einfachen Dingen, schien sein Ton zu sagen, und ihr werdet erstaunt sein.
Achamian hatte Mühe, wachsam zu bleiben.
»Endlich wandeln wir Pilger, wir Männer des Stoßzahns auf dem Boden der heiligen Schriften.« Kellhus’ Miene verdüsterte sich, und er fasste den Architrav über sich und die Säulenreihe gegenüber ins Auge. Die stumme Erwartung verwandelte sich in etwas Erhabenes, als seien alle Anwesenden so atemlos geworden wie die Steine ringsum. »Dies ist das Haus des Mannes, der meinen Bruder unterdrückt hat – das Haus dessen, der Inri Sejenus ermordet und seinen Mord mit der Frage eingeleitet hat: ›Wer ist dieser Knecht, der als König spricht?‹
Bedenkt, wie weit wir gekommen sind. Denkt an all die Länder – die fruchtbaren wie die rauen. An all die Städte. Daran, wie viel wir erobert haben! Und nun stehen wir an der Schwelle…« Er wies mit der rechten Hand in den dunstigen Osten, und erneut sah Achamian das auratische Leuchten…
Jemand stieß einen verzückten Schrei aus.
»Einmal noch muss der Horizont sich wandeln!«, rief Kellhus, und seine Stimme kam donnernd vom Himmel, wisperte zugleich aber ins Ohr eines jeden. »Einmal noch, und wir sehen das Heilige Land. Ein letzter Marsch, dann gelten unsere Schwerter und unser Lied endlich dem heiligen Shimeh selbst! Schon jetzt aber schreiben wir, was die Geschichte dieses Ortes anlangt, die heiligen Schriften um!«
Die Hohen und Niederen Herren, die gebannt gelauscht hatten, stießen so leidenschaftliche wie fromme Rufe aus, und Achamian überlegte, wie sich ihre Begeisterung für die Einwohner von Gerotha anhören mochte, die sich unten in den Gassen herumdrückten. Die verrückten Eroberer…
»Nie zuvor«, donnerte Kellhus, »hat die Welt eine Schar wie uns gesehen… wie uns Männer des Stoßzahns.« Plötzlich zog er sein Schwert mit dem Namen
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