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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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Gewissheit. Es leuchtete milchweiß in der Sonne, und Achamian beobachtete, wie seine Reflexionen über die Herren des Heiligen Kriegs spielten. Einige kniffen die Augen zusammen oder blinzelten.
    »Wir sind das Messer Gottes – geformt in einem Schmelztiegel aus Seuche, Durst und Hunger, gehärtet von den Hämmern des Krieges und ins Blut zahlloser Feinde getaucht! Wir…«
    Überraschend brach er ab und lächelte, als sei er bei einem harmlosen Laster ertappt worden. »Der Mensch prahlt nun mal gern«, sagte er reumütig. »Wer von uns hat noch keine Lügen in ein Mädchenohr geflüstert?« Lachen drang durch die Ruine. »Hauptsache, sie denken über die Beule in unserem Kilt nach…« Nun erhob sich dröhnendes Gelächter. Verschwunden war der hochgestochene Duktus seiner Rede. Aus dem Kriegerpropheten war wieder der Prinz aus Atrithau geworden – ironisch, gerecht und von gleichem Rang wie seine Zuhörer. Er zuckte die Achseln und lächelte wie jemand, der unter Leuten sitzt, die miteinander anstoßen wollen.
    »Und dennoch – die Dinge sind, wie sie sind: Krieg steht in unserem Blick, und in unseren Rufen hallt Verhängnis.
    Die Dinge sind, wie sie sind. Der Ruhm unseres Unternehmens wird alle Taten unserer Vorväter überstrahlen und durch die Epochen leuchten. Er wird erstaunen und erfreuen, aber auch für Entrüstung sorgen. Abertausende werden von ihm künden. Er wird Geschichte schreiben, und unsere Urenkel werden ihre Stammbäume zur Hand nehmen und unsere Namen mit Verehrung und Ehrfurcht nennen, denn sie werden wissen, dass unsere Größe ihre Herkunft gesegnet hat.
    Wir Männer des Stoßzahns nämlich sind Giganten! Giganten!«
    Orkanartige Begeisterung brach los. Ergriffen von der Wucht der Worte, jubelte auch Achamian, wunderte sich allerdings zugleich über seine Leidenschaft und sah Tränen auf Esmenets Wangen.
    »Wer also?«, rief Kellhus in den abebbenden Donner. »Wer ist dieser Knecht, der als König spricht?«
    Plötzlich schwiegen alle. Die buckligen Steinplatten, zwischen denen Unkraut und Gras wuchsen, schienen zu dröhnen. Der Kriegerprophet streckte die leuchtenden Hände in zugleich grüßender, appellierender und segnender Gebärde aus.
    Und er flüsterte: »Ich bin es.«
     
     
    Ausnahmslos hatten die Menschen sich bisher der Ordnung des Beweglichen und Unbeweglichen unterworfen. Sie standen auf der Erde und reisten durchs Land. Mit Kellhus jedoch war sogar diese grundlegende Einteilung auf den Kopf gestellt worden, denn mit jedem Schritt schien er die Welt mit sich zu führen.
    Als er vom Podium stieg und Incheiri Gotian mit einer Handbewegung dazu aufforderte, für die Anwesenden die Rolle des Vorbeters zu übernehmen, schien die Welt selbst auf die Knie zu sinken. Während die Versammelten donnernd in die von Gotian intonierten Verse einfielen, blinzelte Achamian Schweiß aus den Augen und atmete die feuchte Luft tief ein. Er dachte daran, dass Esmenet mit diesem Mann zusammen war, und hatte Angst um sie, als wäre sie ein Blütenblatt, das in ein großes Feuer fiel… Er ist ein Prophet!
    Und wie wirkte sich das auf Achamians Hass aus?
    Auf durchs Geröll geschaufelten Wegen schleppten Sklaven einen langen Tisch und ein paar Stühle herbei und stellten sie für Kellhus und die Hohen Herren im Mittelgang zwischen den Säulen auf. Unter dem Stoßzahn und dem Zirkumfix nahmen sie wie zu einem Festessen Platz, tranken aber nur verdünnten Wein. Während der folgenden Diskussionen stand Achamian die ganze Zeit steif da. Es erschien unwirklich, doch sie planten tatsächlich die Eroberung von Amoteu – und damit den Marsch auf Shimeh! Kellhus hatte die Wahrheit gesagt: Sie waren angekommen. Beinahe jedenfalls.
    Die Verhandlungen verliefen bemerkenswert gesittet; die Zeiten, da verletzter oder maßloser Stolz Streitereien entfacht hatte, waren vorbei. Selbst wenn Saubon und Conphas zugegen gewesen wären, hätte Achamian nicht befürchtet, dass einer der Hohen Herren sich den alten Mätzchen zuwenden würde. Kellhus überragte sie so unbedingt, dass sie sich – Kindern gleich – nicht mehr um die Ellen zwischen sich kümmerten. Sie gehörten ihm bis in den Tod. Könige waren sie und zugleich Schüler.
    Natürlich gab es Meinungsverschiedenheiten, doch die Abweichler wurden weder verachtet noch dafür verurteilt, andere Ansichten zu vertreten. In Kellhus’ Worten: »Wo die Wahrheit unumschränkt herrscht, braucht der Klarsehende keine Unterdrückung zu fürchten.« Besonders Proyas

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