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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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Gewands bis zu den rot geschminkten Lippen. Die beiden wirkten einen Augenblick lang wie entrückt: zu schön, zu rein für die schmutzigen Ziegel und verwahrlosten Herzen ringsum.
    »Genau«, sagte Kellhus. »Sie fragen: ›Wo ist das Gold?‹« Er lächelte sie an. »Oder in deinem Fall…«
    ›»Wo ist der Daumen?‹«, ergänzte Esmenet bekümmert.
    Daumen hieß der Penis in Sumna umgangssprachlich. Warum tat es Achamian nur so weh, sie auf alte Art reden zu hören?
    Kellhus lächelte. »Sie begreifen nicht, dass Gold nur bedeutsam ist, weil es in unseren Erwartungen eine Rolle spielt – weil wir es also bedeutsam werden lassen…« Er hielt inne, und seine Augen funkelten freudig. »Das ließe sich auch von Daumen sagen.«
    Esmenet schnitt eine Grimasse. »Auch wenn der Daumen Eleäzaras heißt?«
    Das Sakrale Gefolge hatte angehalten. Sie standen auf einem der vielen kleinen Bazare, die die labyrinthischen Gänge Gerothas verknüpften. Leere Gesichter schienen sie aus allen Fenstern zu beobachten. Ein paar Männer des Stoßzahns knieten nieder und sahen Kellhus ehrerbietig an. Die allgegenwärtigen Wächter der Hundert Säulen warteten nachdenklich und musterten die angrenzenden Gassen, als könnten sie um Ecken sehen. Jemand hatte Lotusblätter auf die verwitterten Simse einiger Gebäude gemalt. Ein Säugling schrie.
    Der Kriegerprophet schüttelte sein Löwenhaupt und lachte herzlich. Obwohl Achamian spürte, wie ansteckend sein Lachen war und dass es die Forderung enthielt, die kleinen wie die großen Dinge zu feiern, stockte ihm vor Gram der Atem. Anasûrimbor Esmenet sah sich mit scheuer Freude um, doch ihre Augen sprangen sofort weiter, als sie auf seinen trostlosen Blick trafen.
    Sie ergriff die Hand ihres Gatten.
     
     
    Charaöth war die alte Festung der Könige von Xerash.
    In ihren zerstörten Sälen trafen sich die Herren des Heiligen Kriegs, warteten auf ihren Kriegerpropheten und sahen sich dabei fragend und ungeduldig um. Zufällig hörte Achamian Pfalzgraf Gaidekki behaupten, König Shikols Toben sei im Nachtwind zu hören. Er sah einen von Gothyelks Vasallen Marmorscherben in ein Tuch sammeln.
    Da nur Charaöth über Gerothas schwarze Stadtmauern hinaussah, hatte Achamian sich vom ersten Tag der Belagerung an über diese Festung Gedanken gemacht. Er wusste, dass sie aufgegeben worden war, als die Tausend Tempel in den Tagen des Ceneischen Reichs die Vorherrschaft errangen, hatte aber bisher angenommen, die Fanim hätten sie zerstört. Später erfuhr er dann von Gayamakri, dass die Kianene die Festung als eines ihrer größten Heiligtümer verehrten. Warum auch nicht, da viele Inrithi sie als den Sitz der Böswilligkeit betrachteten?
    Die alten Mauern waren niedergerissen worden, so dass man von der Festung aus freien Blick auf das elfenbeinfarbene Gerotha ringsum hatte. Die Sinnenfreude Nilnameshs vermittelte sich unübersehbar in den bauchigen Säulen und Pilastern, in den geschwungenen Treppen, die im Nirgendwo endeten, und durch die vierflügeligen Ciphrang, die jede Türschwelle flankierten. Auch ohne Dach und in ihrer Verfallenheit mutete die Architektur bedrückend an, ohne allerdings den Monstrositäten Shigeks oder des alten Kyraneas zu ähneln, die wirkten, als seien sie aus riesigen Bauklötzchen errichtet. Die erhaltenen Schulterbögen zeigten, dass die alten Baumeister von Xerash die Grundlagen der Statik beherrschten. Etwas Gedrungenes allerdings ließ all ihre Bauten so erscheinen, als hätten sie unsichtbare Lasten zu tragen.
    Ob Shikol wirklich von hier aus regiert hatte? Wie die meisten Kinder der Inrithi war auch Achamian mit Geschichten über den lüsternen alten König dazu angehalten worden, brav zu sein. »Benimm dich«, hatte seine Mutter ihn stets gewarnt, »oder er findet dich und stellt unaussprechliche Dinge mit dir an!«
    Achamian wartete und mühte sich redlich, Esmenet zu ignorieren, die keine vier Schritte von ihm zu seiner linken Seite auf einem vergoldeten Stuhl saß. Er stand auf dem breiten Bogen, über dem sich einst das Podium des Audienzsaals erhoben hatte. Einige Treppen und ein Geviert von Pilastern, deren Architrave noch unversehrt waren, trennten das Podium vom Saal. Dem Traktat zufolge hatten die Könige von Xerash vom Bett aus regiert; besonders Shikol war dafür bekannt gewesen, sich dem Lotterleben zu überlassen, während der Hofstaat durch die dünnen Schleier spähte, die sein Podium umgaben. Da er wusste, dass Gegenspieler im Laufe der Zeit

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