Der tausendfältige Gedanke
ausgestorbenen Familie des Letzten Propheten. Obwohl die dort ansässigen Inrithi längst geflohen waren, versammelten sich viele Einwohner der Stadt, um die ausgezehrten Pilger zu bejubeln.
Solche Menschen mussten – so versicherten sie einander – heilig sein.
Sie gingen vor ihm her und redeten, als merkten sie gar nicht, dass Achamian nur wenige Schritte hinter ihnen war.
Esmenet und Kellhus.
Der Tagetribut war eingefordert, und in der Stadt war es nun seltsam still – sei es, weil so viele für immer verstummt waren, sei es aus Entsetzen. Entlang der Gasse schraken die Zuschauer zurück oder fielen auf die Knie. Besonders die Xerashi waren darauf bedacht, die schwarzumrandeten Augen zu Boden zu richten, als das Sakrale Gefolge vorbeizog. Wie Achamian vermutete, machte der Kriegerprophet seinen Rundgang durch Gerotha, um gesehen zu werden, zugleich aber seine Beute in Augenschein zu nehmen.
Der Traktat nannte Gerotha die Stadt der hundert Dörfer, und auch nach zweitausend Jahren passte dieser Beiname noch. Die Gassen waren so eng und zahlreich wie im Wurm, einem Stadtteil von Carythusal. Anders als dort aber, wo die Wege zahllosen, nicht aufeinander abgestimmten Entscheidungen aus vielen Jahren folgten, liefen sie hier stets auf winzige Bazare zu (deren Pflaster die Sonne geradezu röstete), als wäre Gerotha wirklich ein Haufen von Dörfern, die ineinander übergingen wie Schimmelflecken auf einem Brot.
Esmenet hatte Kellhus von ihrer Morgenaudienz bei den Scharlachspitzen berichtet. Saurnemmi zufolge ging in Joktha alles seinen gewöhnlichen Gang – trotz oder gerade wegen des rauen Auftretens des Scylvendi. Außerdem behauptete Eleäzaras, mit Pfalzgraf Uranyanka persönlich gesprochen und ihn vor den fatalen Folgen jeder Aufwiegelung – ob sie nun öffentlich oder hinter verschlossenen Türen stattfinde – gewarnt zu haben. »Der Hochmeister bat mich«, sagte sie, »dir zu versichern, dass der Pfalzgraf von Moserothu dir keine Schwierigkeiten mehr bereiten wird.«
Achamian konnte sie nur bestürzt und bewundernd ansehen und ihr lauschen. Es war unfassbar, sie so zu erleben. Schon ihre ganze Erscheinung: ihr mit einer diamantenen Spange hochgestecktes Haar und ihr für die Höfe und Lustgärten des Palasts der Weißen Sonne in Nenciphon genähtes Kianene-Gewand! Aber auch ihr Auftreten: aufrecht, offen, scharfsinnig und ironisch! Sie war ihrer neuen Rolle gewachsen und erfüllte sie obendrein mit Anmut und Schönheit.
Dies belastete ihn so, dass er Mühe hatte zu atmen. Ich muss dem ein Ende bereiten!
Früher hatte es nur sie beide gegeben. Früher hatte er ihr einfach die Hand um die Taille gelegt, und sie hatte sich in seine Arme geschmiegt. Vorbei, vorbei! Stattdessen war Kellhus zum Mittelpunkt geworden, zu der Station, die alle passieren mussten, um einander und sich selbst zu finden. Alles unterlag dem strahlenden Licht seiner Einsicht. Und Achamian trottete wie ein untröstlicher Bettler hinter ihnen her… Warum hatte sie ihm wohl gesagt, er sei stark?
»Eleäzaras hat dich beleidigt«, sagte Kellhus. Er wandte sich ihr zu, und Achamian konnte sein bärtiges Profil sehen. Der Kriegerprophet trug einen prächtigen Mantel, der vom Schnitt her denen der Girgashi glich, aber üppig verziert war – mit senkrechten Goldstreifen etwa, die in der Sonne blitzten. Allerdings wirkte der Mantel umgearbeitet, wie es bei dem legendären Bauchumfang des toten Padirajah nicht anders zu erwarten war.
»Er hat mich tatsächlich eine Hure genannt«, sagte Esmenet.
»Damit musst du rechnen. Du bist für sie wie eine unbekannte Währung.«
Ihr Lächeln war zynisch und sanft. »Und wo ist der Geldwechsler?«
Kellhus lachte. Achamian sah, wie sich auf den Mienen ringsum Freude zeigte. Einige lachten ebenfalls und erzeugten so ein schwermütiges Echo. Wohin Kellhus auch kam, vermochte er andere zu bewegen – wie ein Stein, der in ruhiges Wasser geworfen wurde.
»Die Menschen sind einfach gestrickt«, antwortete er. »Sie denken vor allem dinglich, nicht relational. Darum glauben sie, Gold oder Silber und nicht der Gehorsam, zu dem es andere nötigt, verleihe dem Geld seinen Wert. Wenn sie hören, die Münzen der Nilnameshi seien aus Keramik, fangen sie an zu spotten.«
»Oder wenn sie hören, der Kriegerprophet bediene sich einer Frau«, versetzte Esmenet.
Ein schmaler Sonnenstrahl glitt über ihren Körper, und für einen Moment schimmerte alles an ihr seiden – von den Falten ihres
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