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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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Rathgebern. Ich darf nicht von seiner Seite weichen.«
    Proyas’ Augen verengten sich vor Zorn, doch Achamian hatte den Eindruck, etwas in ihm sei gebrochen. Seit Xinemus hatte der Prinz es aufgegeben, zu seinen Bedingungen Buße zu suchen. Er unterschied nicht länger zwischen verschiedenen Heimsuchungen, sondern ertrug alles, was er nur konnte.
    »Du bist ihm schon mal von der Seite gewichen«, sagte Proyas gelassen.
    »Nur auf sein Verlangen hin und gegen meine Einwände.«
    Warum verspürte er plötzlich das Bedürfnis zu strafen? Nun, da Proyas etwas von ihm wollte, war er verlockt, ihm einen Spiegel seiner herzlosen Geringschätzung vorzuhalten, auf dass der Prinz an seinem alten Lehrer seiner Sünden gewahr werde. Trotz allem, was Kellhus ihm beigebracht hatte, trug Achamian noch immer die alten Schuldbücher im Herzen und hakte weiterhin beglichene Rechnungen ab. Warum tue ich das ständig?
    Proyas blinzelte und schürzte die Lippen, als habe er in etwas Saures gebissen. »Du solltest Xinemus besuchen«, sagte er, ohne noch Anstalten zu machen, seine Bitterkeit zu verbergen. Dann ging er ohne ein Wort des Abschieds.
    Achamian war so benommen, dass er nicht denken konnte, und beobachtete nur die versammelten Adligen. Gaidekki und Ingiaban lieferten sich, wie so oft, ein spaßhaftes Wortgefecht. Iryssas mischte sich stotternd ein, um auch etwas beizutragen; manchmal schien er der Einzige zu sein, der sich seit Momemn nicht verändert hatte. Gotian tadelte einen jungen Tempelritter. Soter und ein paar andere Ainoni schienen darüber zu lachen, wie Uranyanka dem Kriegerpropheten das Knie küsste. Hulwarga stand stumm im Schatten von Yalgrota, dem riesigen Leibsklaven seines toten Bruders Skaiyelt. Alle redeten, gehörten irgendwie dazu und bildeten kleine, ineinandergreifende Kreise, die den Gliedern eines Kettenhemds ähnelten.
    Der Gedanke traf Achamian unvermittelt.
    Ich bin allein.
    Von seiner Familie wusste er nur, dass seine Mutter tot war. Er verachtete seinen Orden fast so sehr, wie der ihn verachtete. Er hatte auf diese oder jene Art all seine Schüler an die verdammten Götter verloren. Esmenet hatte ihn verraten…
    Er hustete, schluckte und schimpfte sich einen Dummkopf. Dann befahl er einem vorbeikommenden Sklaven – einem mürrisch dreinblickenden Jugendlichen –, ihm unverdünnten Wein zu holen. Na bitte, dachte er, als der Junge losflitzte, einen Freund hast du noch. Mit auf die Knie gestützten Unterarmen sah er auf seine Sandalen hinunter und betrachtete stirnrunzelnd seine ungeschnittenen Zehennägel. Dann dachte er an Xinemus. Ich sollte ihn besuchen…
    Er drehte sich nicht um, als der Schatten sich neben ihm auf die Stufen setzte. Es roch plötzlich nach Myrrhe. Ein verräterischer und jugendlicher Teil seiner Seele jauchzte vor Freude, obwohl er wusste, dass es nicht Esmenet war. Dazu war der Schatten zu dunkel.
    »Ist es schon so weit?«, fragte Achamian.
    »Bald«, sagte Kellhus.
    Achamian hatte die abendlichen Unterweisungen in der Gnosis regelrecht zu fürchten begonnen. Logik oder Arithmetik intuitiv zu verstehen, mochte erstaunlich sein, aber alte Kriegsformeln auf diese Weise zu erfassen, war etwas ganz anderes. Wie hätte er sich nicht fürchten sollen, da Kellhus seine Fähigkeiten des Vergleichens und Kategorisierens so mühelos übertraf?
    »Was beunruhigt dich, Akka?«
    Was meinst du wohl?, dachte er grimmig, wandte sich Kellhus aber gefasst zu und fragte: »Warum Shimeh?«
    Die klaren blauen Augen musterten ihn schweigend.
    »Du sagt, du seist gekommen, uns zu retten«, drängte Achamian. »Das hast du zugegeben. Warum also marschieren wir weiter auf Shimeh, wenn es doch Golgotterath ist, das uns zum Verhängnis zu werden droht?«
    »Du bist müde«, antwortete Kellhus. »Vielleicht sollten wir unsere Studien erst morgen – «
    »Mir geht’s gut«, stieß Achamian hervor und war bestürzt über seine Schroffheit. »Der Schlaf und die Mandati«, fügte er wenig überzeugend hinzu, »sind alte Feinde.«
    Kellhus nickte und lächelte traurig. »Dein Gram… von Zeit zu Zeit überwältigt er dich noch immer.«
    Achamian staunte, wie selbstverständlich er dem beipflichtete.
    Es waren kaum noch Inrithi zugegen. Ein paar Gestalten hatten sich in diskretem Abstand versammelt und warteten offenkundig auf Kellhus, doch der schickte sie mit einer Handbewegung weg. Bald waren Achamian und Kellhus allein, saßen nebeneinander auf der Kante des Podiums und beobachteten, wie die

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