Der tausendfältige Gedanke
sehen wie seinen Hinterkopf oder seine Eingeweide. Und da man das, was man nicht sieht, nicht unterscheiden kann, ist der Mensch nicht zur differenzierten Wahrnehmung seiner selbst fähig, sondern hat den Eindruck, stets zur selben Zeit, am selben Ort und als ein und dieselbe Persönlichkeit zu denken. Wie man eine Spirale so zusammendrücken kann, dass sie nur mehr als Kreis erscheint, so vergeht die Zeit stets im Jetzt, findet alles Treiben der Welt immer im Hier statt und bin ich der Ort jeder menschlichen Begegnung Könnte der Mensch aber seine Ursprünge erfassen, würde er erkennen, dass es kein Jetzt, kein Hier und kein Ich gibt, dass es ihn also genauso wenig gibt wie einen Kreis.
Memgowa: Himmlische Aphorismen
Ihr seid von Ihm gefallen wie Funken von der Flamme. Es weht ein düsterer Wind, und bald seid ihr erloschen.
Die Chronik des Stoßzahns: Lieder, Teil 6, Nr. 33
XERASH, VORFRÜHLING 4112
Die Belagerung von Gerotha war schon einige Tage im Gange, als die langen Maultierkolonnen der Scharlachspitzen endlich eintrafen. Als sei dies das Stichwort gewesen, verließ eine neue Gesandtschaft die Stadt, bewegte sich diesmal allerdings in der Art unterwürfiger Bittsteller voran, während die Tore geöffnet blieben. Wie vom Kriegerpropheten versprochen, kapitulierte die alte Hauptstadt von Xerash aus freien Stücken.
Als Geschenk brachten die Gesandten die Köpfe der zwölf Männer mit, die das letzte Schließen der Tore zu verantworten hatten, darunter auch den Kopf von Hauptmann Hebarata, der den Kriegerpropheten beleidigt hatte. Aber die Herren des Heiligen Kriegs waren dadurch nicht beschwichtigt, und der Kriegerprophet richtete scharfe Worte an die Männer aus Gerotha: ein Beispiel müsse statuiert und ein Opfer gebracht werden, zur Buße wie zur Warnung. Als könnte Proportionalität Gerechtigkeit verbürgen, verkündete er seinen »Tagetribut«: Vier Tage habe Gerotha die Tore vor ihm geschlossen – also müssten vier von zehn Bewohnern der Stadt ihr Leben lassen.
»Bis morgen früh«, ordnete er an, »müssen zwanzigtausend Köpfe von den Zinnen eurer Stadtmauern hängen. Wenn ihr diese Forderung nicht erfüllt, werdet ihr alle sterben.«
Während der Heilige Krieg feierte, schrie in dieser Nacht ganz Gerotha. Am Morgen waren die Stadtmauern voller Blut, und von den Zinnen hingen in Fischernetzen oder an Seilen Tausende Köpfe. Als man die Toten zählte, ergab sich, dass die Einwohner der Stadt 3056 Menschen mehr abgeschlachtet hatten, als von ihnen verlangt worden war.
In ganz Xerash versperrte keine große oder kleine Stadt und keine Festung mehr die Tore vor dem Heiligen Krieg.
Athjeäri hatte mittlerweile als erster Herr des Heiligen Kriegs das Heilige Land betreten. Erst nach einiger Zeit begriffen er und seine Gaenri, dass sie tatsächlich in Amoteu waren. Dem Aussehen und der Sprache nach waren die Xerashi – die Söhne Shikols, wie Athjeäris Leute sagten – kaum von den Amoti zu unterscheiden. Die Gaenri durchquerten die Hochebene von Jarta, deren Bewohner generationenlang Krieg gegen die Amoti geführt, sich dann aber einen ruinösen Bürgerkrieg geliefert hatten.
Mit nur fünfhundert Lehnsmännern und Rittern kämpfte Athjeäri sich immer weiter nach Amoteu hinein. Die Bewohner des Landes begegneten den sonnengebräunten Galeoth mal hinterhältig, mal kooperativ. Obwohl die meisten sich als Fanim bezeichneten, mochten sie die Kianene nicht, und nach Monaten voller schauriger Gerüchte hielten viele die Götzendiener und ihren falschen Propheten für unbesiegbar. Schließlich war der Padirajah gefallen, und nachdem der große Kascamandri tot war, blieben ihnen nur die launischen Verwandten des unbarmherzigen Saudoun aus Enathpaneah.
Es gab Zusammenstöße bei Gim (dem berühmten Heiligtum der Anothrite) und bei Mer-Porasas. Athjeäri wurde bei Girameh – dem Geburtsort der Mutter des Letzten Propheten – am Knie verwundet. Rasch avancierte die blutverschmierte Standarte der Inrithi – ein Zirkumfix über dem Roten Pferd von Gaenri – zu einem Zeichen, das allgemein Panik und Schrecken auslöste. Und obwohl Fanayal immer mehr Granden aussandte, um Athjeäri zu jagen, gelang dem Grafen von Gaenri immer wieder die Flucht, oder er behielt gar die Oberhand.
Hurall’arkeet nannten die Wüstenbewohner ihn bald – der Wind, der Zähne hat.
Am Tag der Palmen ritten die Krieger in eisernen Rüstungen endlich in Besral ein, der alten Heimat der inzwischen
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