Der tausendfältige Gedanke
mit gezogenem Messer herumzulaufen, nur um zu merken, dass es bloß ein Motiv gab: Selbsterhaltung?
Was habe ich getan?
Seit Wochen hatten die Mitglieder des Geheimen Rats der Scharlachspitzen – die Mitglieder der Zwei Hände also – eine Frage nach der anderen erörtert. Ist der Prinz aus Atrithau wirklich ein Prophet? Und wenn ja: Warum sollen die Scharlachspitzen seinen Forderungen zustimmen? Was hat es mit der Zweiten Apokalypse auf sich? Die Rathgeber und ihre Hautkundschafter immerhin hatten Chepheramunni ersetzt und Ainon in seinem Namen regiert. Was bedeutete das? Und wie sollten sie darauf antworten? Sollten sie sich zurückziehen, den Heiligen Krieg verlassen? Welche Konsequenzen wären damit verbunden?
Oder sollten sie ihren Krieg gegen die Cishaurim fortführen?
All diese Fragen verlangten entschlossene Führung, und genau die ließ ihr gegenwärtiger Hochmeister klar vermissen. Die Anspielungen und kleinlichen Bemerkungen, die wegen ihrer Doppeldeutigkeiten noch viel anklagender waren, hatten schon begonnen. »Pfeift auf die Andeutungen!«, hätte er Inrûmmi, Sarosthenes und den anderen am liebsten zugerufen. »Äußert einfach, was ihr denkt!«
Das sagte vermutlich alles. Denn was bedeutete es nach Ansicht der Leute aus Conriya, wenn ein Ainoni Klarheit forderte?
Dass bald Köpfe rollen würden.
Besonders Iyokus war streitsüchtig geworden, obwohl Eleäzaras ihn wieder in seine alte Stellung eingesetzt hatte. Wer hatte je von einem blinden Geheimdienstchef gehört? Schon vor dem Eintreffen der Intricati hatte der Chanvsüchtige gefordert, Eleäzaras solle das Unentscheidbare analysieren, sich seine Stellung ins Gedächtnis rufen und mit den neuen Fanatikern, wie er sie nannte, aus einer Position der Stärke heraus verhandeln.
»Sag das nicht!«, hatte Eleäzaras gerufen. »Denk es noch nicht einmal.«
»Sollen wir diese Demütigungen etwa einfach so ertragen? Wollt Ihr sie wirklich übergeben, unsere…«
»Er liest unsere Seele in unserer Miene, Iyokus! Alles, was du mir sagst, sagst du auch ihm! Er braucht nur zu fragen: ›Was hält Euer Geheimdienstchef von all dem?‹, und egal, was ich ihm antworte: Er wird genau das hören, was du gesagt hast.«
»Pah!«
In der Unwissenheit lag Stärke, wie Eleäzaras begriff. Sein Leben lang hatte er Wissen für eine Waffe gehalten. »Die Welt wiederholt sich«, hatte der Philosoph Umartu aus Shir geschrieben. »Erkenne die Wiederholungen, und du kannst einschreiten.« Eleäzaras hatte das zu seinem Mantra und zu dem Werkzeug gemacht, mit dem er seinen Verstand geschliffen hatte. Du kannst einschreiten, hatte er sich immer wieder gesagt – egal unter welchen Umständen.
Aber es gab Wissen jenseits aller Hoffnung auf Einschreiten – Wissen, das verspottete, erniedrigte, kastrierte und lahmte und dem nur Unwissen widersprechen konnte. Iyokus und Inrummi wussten einfach nicht, was er wusste, und darum hielten sie ihn für einen Kastraten. Sie glaubten nicht einmal.
Vielleicht war es unvermeidlich, dass die Intricati hier und jetzt erschienen war. Dass der Kriegerprophet einschritt.
»Warum bin ich nicht gerufen worden?«, fragte sie gerade. »Warum wurde der Kriegerprophet nicht informiert?«
»Wir hielten es für eine Ordensangelegenheit«, sagte Iyokus.
»Eine Ordensangelegenheit…«
Eleäzaras grinste hämisch. »Wir müssen schließlich gegen die Schlangenköpfe antreten, nicht Ihr.«
Sie hatte doch tatsächlich die Unverfrorenheit, einen Schritt näher zu kommen. »Diese Wesen haben nichts mit den Cishaurim zu tun«, stieß sie hervor. »An Eurer Stelle würde ich über das Wort ›wir‹ nachdenken, Eleäzaras. Seine Bedeutung ist trügerischer, als selbst Ihr denken mögt.«
Diese unverschämte Hure! »Pah!«, rief er. »Warum rede ich überhaupt mit Leuten wie Euch?«
Ihre Augen blitzten. »Mit Leuten wie mir?«
Ihr Ton oder auch eine plötzliche Einsicht brachten ihn zum Nachdenken. Er spürte seine Verachtung schwinden und seinen Blick vor Angst stumpf werden. Er blinzelte und sah zum Hautkundschafter hinüber, der sich an seinen Ketten krümmte. Plötzlich erschien ihm alles so… niederdrückend.
So hoffnungslos.
»Entschuldigt«, sagte er. Aus Gewohnheit hatte er bissig klingen wollen, sich aber verängstigt angehört. Was geschah mit ihm? Wann würde dieser Alptraum enden?
Ein triumphierendes Lächeln stahl sich in ihr Gesicht. In die Miene einer gemeinen Hure!
Eleäzaras spürte Iyokus vor Empörung erstarren;
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