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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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Raupen, die sich bei jeder Berührung kugelförmig zusammenrollen. Das Gleiche dürfte passieren, wenn diese Wesen gefangen genommen werden.«
    Schaudernd beugte Esmenet sich vor, um sich Wasser aus dem Haar zu wringen. Dann tupfte sie ihr Gesicht mit dem Futter ihres Übermantels ab und erkannte an den Flecken, die auf dem Stoff zurückblieben, dass ihr schwarzer Lidschatten sich über beide Wangen verteilt hatte. Sie blinzelte den Hautkundschafter an und versuchte, wieder ruhig zu atmen. Sie musste sich gegen solche Dinge abhärten!
    Wen hältst du zum Narren?
    Ob es auch anderen so ging, die eine hohe Stellung bekleideten? Ob auch sie ständig Angst hatten? Angst vor jedem Wort und jedem Tun, da die Konsequenzen so groß waren und so weit reichten? Die Rathgeber existieren tatsächlich.
    »Nein«, sagte Kellhus. »Du denkst über sie nach, als seien sie Menschen.« Er warf Achamian ein tadelndes Lächeln zu, und Esmenet ertappte sich dabei, es zu erwidern. »Du gehst davon aus, sie hätten eine Art Selbst zu verbergen. Doch all ihre Charakterzüge sind gestohlen. Und von diesen Zügen abgesehen verfügen sie allenfalls über primitive Vorstufen eines Selbst. Sie sind nur Schalen, die jeder Seele Hohn sprechen.«
    »Das ist mehr als genug«, gab Achamian zurück und verzog das Gesicht.
    Was er damit sagen wollte, lag auf der Hand: Das ist mehr als genug, um uns zu ersetzen.
    »Mehr als genug«, wiederholte Kellhus, doch das Bedauern, die Trauer und die Vorahnung in seiner Stimme vermittelten den Eindruck, er habe ganz andere Worte verwendet.
    Esmenet stellte sich – noch immer ziemlich durchnässt – neben Kellhus und achtete darauf, dass er zwischen ihr und Achamian stand. Plötzlich sah sie sich zu ihrer Verwirrung im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit.
    »Wen hat dieses Wesen eigentlich ersetzt?«, fragte er sie.
    »Einen ihrer Kriegersklaven«, gab sie zurück. »Einen Javreh von den Rhumkari.«
    »Eine Heulsuse«, sagte Achamian, benutzte also den abwertenden Begriff der Hexenmeister für Chorae-Bogenschützen, für die Männer mithin, die die Tränen Gottes vergossen. Die Rhumkari galten – Esmenets Informationen nach – allgemein als die gefährlichsten Schützen im Gebiet der Drei Meere.
    Sie nickte. »Darum hat Eleäzaras ja von ihm Wind bekommen. Die Scharlachspitzen ermuntern die Männer ihrer Eliteformationen, untereinander Liebschaften einzugehen. Sein Liebhaber hat ihn seinen Vorgesetzten gemeldet. Offenbar haben sie sein Gesicht mit Nadeln überprüft.« Sie sah Kellhus mit einem Blick an, der stolz hätte wirken sollen, aber eher sehnsüchtig war.
    »Das mag im Einzelfall wirkungsvoll sein«, sagte er nickend, »ist in größerem Stil aber praktisch undurchführbar.« Zwar sah er sie nicht an, drückte aber sanft ihre Schulter, als er das Monstrum umkreiste. Der Platz zwischen ihr und Achamian wirkte plötzlich… nackt.
    »Was denkst du also?«, fragte Achamian. »Könnten wir sie bei der Vorbereitung eines Mordversuchs ertappt haben?« Trotz ihres Unbehagens brachte das Beben in seiner Stimme Esmenet dazu, ihn anzusehen. Er erwiderte ihren Blick mit großen Augen und sah dann weg.
    Sie begriff, dass die Sorge nie nachließ und die Angst, Fehler zu machen, nie verschwand.
    Nicht bei Leuten wie uns.
    »Sie wissen, dass du inzwischen das Mal trägst«, sagte sie zu Kellhus. »Sie halten dich für verletzlich.«
    »Aber die Risiken…«, sagte Achamian. »Ich wüsste nicht, wen die Scharlachspitzen genauer untersuchen als ihre Rhumkari. Wer sich dieses Wesens bedient hat, ist sich darüber gewiss im Klaren.«
    »Stimmt«, sagte Kellhus. »Es sieht nach einer Verzweiflungstat aus.«
    Unerklärlicherweise dachte Esmenet an den Tag in Sumna zurück, als sie mit Achamian und Inrau die Bedeutung von Maithanets Angebot an die Scharlachspitzen erörtert hatte. Es war das erste Mal gewesen, dass Männer ihr zugehört hatten. »Nun«, sagte sie so zuversichtlich sie konnte, »du hast die größte Seele, Kellhus, und den feinsten Verstand. Du bist gekommen, um die Zweite Apokalypse zu verhindern. Würden sie da nicht alles tun, um dir die Gnosis vorzuenthalten? Wirklich alles?«
    »Chigraaaaaaaa«, keuchte die Kreatur. »Put hara ki zurot …«
    Achamian sah Kellhus an, bevor er sich ihr ungewöhnlich entschieden zuwandte. »Ich denke, sie hat recht«, sagte er und betrachtete Esmenet mit unverhohlener Bewunderung. »Vielleicht können wir aufatmen, vielleicht auch nicht. Wie dem auch sei – wir sollten

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